Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
amerikanischen Zirkusunternehmer. Klassisches Beispiel dafür war ein Hellseher, der die Versuchsperson eindringlich musterte und mit ernster Stimme verkündete: »Ich spüre, dass Sie zwar häufig aus sich herausgehen, im Grunde Ihres Herzens aber oft schüchtern sind.«
Was als tiefe Einsicht empfunden wurde, aber eigentlich auf fast jeden Menschen dieser Erde zutraf.
Weder Cheryl noch der fiktive John hatten Kinder. Aber alle beide hatten Katzen, geschiedene Eltern und spielten gern Tennis. Was für ein Zufall! Wie gut sie doch zusammenpassten…
Es wird langsam Zeit, dachte er. Besonders eilig hatte er es allerdings nicht. Selbst wenn die Polizei inzwischen einige Anhaltspunkte für sein Vorgehen besaß, würde sie mit dem nächsten Mord erst um sechzehn Uhr rechnen; es war gerade mal kurz nach zwei.
Sie mögen glauben, dass die Welt der Illusion und die reale Welt sich niemals kreuzen, verehrtes Publikum, aber das stimmt nur bedingt.
Mir fällt zu diesem Thema John Mulholland ein, namhafter Zauberkünstler und Redakteur des Fachmagazins
The Sphinx
, der in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts plötzlich seinen vorzeitigen Ruhestand verkündete und sich sowohl von der Bühne als auch aus dem Journalismus zurückzog.
Niemand konnte es sich erklären. Dann aber kamen die ersten Gerüchte auf, laut denen er begonnen hatte, für die amerikanischen Geheimdienste zu arbeiten und Spione darin zu unterweisen, wie man jemandem mittels gewisser Techniken auf dermaßen subtile Art Drogen verabreichen konnte, dass sogar der argwöhnischste Kommunist nicht bemerkte, was vor sich ging.
Was sehen Sie nun in meinen Händen, verehrtes Publikum? Schauen Sie genau hin. Nichts, richtig? Sie scheinen leer zu sein. Doch wie Sie vermutlich bereits ahnen, verhält es sich anders…
Malerick wendete einen von Mulhollands schlichteren Tricks an, nahm mit der linken Hand seinen Löffel und klopfte wie geistesabwesend damit auf den Tisch. Cheryl schaute unwillkürlich hin, nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie verschaffte Malerick dadurch genug Zeit, Pulver aus einer winzigen Kapsel in ihre Kaffeetasse zu schütten, während er mit der betreffenden Hand nach dem Zucker griff.
John Mulholland wäre stolz auf ihn gewesen.
Schon kurz darauf konnte Malerick erkennen, dass das Mittel Wirkung zeigte, denn Cheryls Blick schien ein wenig abzuschweifen, und sie schwankte leicht hin und her. Einen Verdacht schöpfte sie nicht. Das war das Gute an Flunitrazepam, dem Wirkstoff des berüchtigten Tranquilizers Rohypnol: Man erkannte nicht, dass man unter Drogen stand. Nicht bis zum nächsten Morgen. Was in Cheryl Marstons Fall ohnehin belanglos sein würde.
Er sah sie an und lächelte. »He, soll ich Ihnen mal was Lustiges zeigen?«
»Was Lustiges?«, fragte sie schleppend, blinzelte mehrmals und grinste breit.
Er bezahlte die Rechnung.
»Ich hab mir erst kürzlich ein Boot gekauft«, sagte er dann.
Sie lachte verzückt auf. »Ein Boot? Ich liebe Boote. Was für eins?«
»Ein Segelboot, zwölf Meter lang. Meine Frau und ich hatten ein ähnliches Modell«, sagte Malerick bekümmert. »Bei der Scheidung wurde es
ihr
zugesprochen.«
»John, nein, Sie machen Scherze!«, rief sie kichernd. »Mein Mann und ich hatten auch eins! Und bei der Scheidung wurde es
ihm
zugesprochen.«
»Wirklich?« Er lachte und stand auf. »He, lassen Sie uns zum Fluss gehen. Sie können es von dort aus sehen.«
»Sehr gern.« Sie erhob sich auf unsicheren Beinen und nahm seinen Arm.
Er führte sie zur Tür. Die Dosis schien richtig bemessen zu sein. Cheryl war gefügig, würde aber bei Bewusstsein bleiben, bis sie das Gebüsch am Ufer des Hudson erreichten.
Sie wandten sich in Richtung Riverside Park. »Haben Sie nicht irgendein Boot erwähnt?«, lallte Cheryl.
»Ja.«
»Mein Exmann und ich hatten auch mal eins.«
»Ich weiß«, sagte Malerick. »Das haben Sie mir schon erzählt.«
»Ach, hab ich?« Cheryl lachte.
»Warten Sie kurz«, sagte er. »Ich muss etwas holen.«
Er blieb bei seinem Wagen stehen, einem gestohlenen Mazda, nahm eine schwere Sporttasche von der Rückbank und schloss die Tür wieder ab. Etwas in der Tasche klirrte laut und metallisch. Cheryl schaute hin und öffnete den Mund, schien dann aber zu vergessen, was sie sagen wollte.
»Hier entlang.« Malerick führte sie zum Ende der Querstraße, auf einer Fußgängerbrücke über den Parkway und hinunter zu einem unübersichtlichen und menschenleeren
Weitere Kostenlose Bücher