Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
dem Bierbauch ein schmieriges langärmliges Denimhemd mit Harley-Davidson-Aufdruck trug.
Er schnappte sich eine Zeitung, rollte sie zusammen und nahm sie in die linke Hand, um seine Finger zu verbergen. Dann bewegte er sich von neuem in Richtung Osten und interessierte sich dabei anscheinend für all die Glasmalereien, die Krüge und Schalen, handgefertigten Spielzeuge, Kristallwaren und CDs. Einer der Polizisten sah ihn direkt an, aber nur für einen kurzen Moment.
Malerick erreichte das Ende des Platzes.
Die Treppe hinunter zum Broadway war etwa fünfundzwanzig Meter breit und von den Uniformierten weitgehend abgeriegelt worden. Jeder Erwachsene, der den Bereich verlassen wollte, wurde angehalten und musste sich ausweisen.
Malerick sah den Detective und die Frau mit den lilafarbenen Haaren beim Stand der Marktleitung stehen. Sie flüsterte dem Mann etwas ins Ohr. Hatte sie ihn bemerkt?
Schlagartig kochte unbändige Wut in Malerick hoch. Er hatte die Vorstellung so sorgfältig geplant – jede Nummer, jeder einzelne Trick war genau auf das morgige Finale abgestimmt. Dieses Wochenende sollte zur perfektesten aller jemals aufgeführten Illusionen werden. Und nun geriet alles ins Wanken. Er dachte daran, wie enttäuscht sein Mentor sein würde. Und zudem blamierte er sich vor seinem verehrten Publikum… Seine Hand, die derzeit ein kleines Ölgemälde der Freiheitsstatue hielt, fing unwillkürlich an zu zittern.
Das kann ich nicht zulassen!, schoss es ihm durch den Kopf.
Er legte das Bild zurück und drehte sich um.
Doch noch im selben Moment erstarrte er und keuchte leise auf.
Die rothaarige Polizistin stand nur ein kurzes Stück von ihm entfernt und schaute gerade in eine andere Richtung. Schnell wandte er seine Aufmerksamkeit einer Schmuckauslage zu und fragte den Verkäufer mit breitem Brooklyner Akzent, wie viel denn wohl ein Paar Ohrringe kostete.
Aus dem Augenwinkel verfolgte er, wie der Blick der Polizistin ihn beiläufig streifte. Die Frau erkannte ihn nicht und setzte gleich darauf einen Funkspruch ab. »Hier Einheit Fünf Acht Acht Fünf. Bitte verbinden Sie mich mit dem Festnetzanschluss von Lincoln Rhyme.« Ein paar Sekunden vergingen. »Wir sind auf dem Markt, Rhyme. Er
muss
hier irgendwo sein… Die Ausgänge wurden schnell genug abgeriegelt. Wir werden ihn finden, selbst wenn wir dazu jeden einzelnen Besucher filzen müssen.«
Malerick tauchte in der Menge unter. Wie sahen seine Optionen aus?
Eine Täuschung – das schien die einzige Lösung zu sein. Er musste die Polizei irgendwie ablenken, nur für die fünf Sekunden, die er benötigte, um durch die Absperrung zu schlüpfen und zwischen den Passanten auf dem Broadway zu verschwinden.
Aber was genau sollte er tun?
Er hatte keine Knallkörper mehr bei sich, um damit Schüsse vorzutäuschen. Sollte er eine der Buden anzünden? Nein, das würde nicht die Art von Panik auslösen, die er jetzt brauchte.
Wiederum packten ihn Wut und Angst.
Dann jedoch fiel ihm ein, was sein Mentor vor vielen Jahren zu ihm gesagt hatte, nachdem ihm auf der Bühne ein Fehler unterlaufen und die Nummer dadurch beinahe ruiniert worden war. Im Anschluss an die Vorstellung hatte der dämonische bärtige Illusionist den Jugendlichen, der verschämt zu Boden blickte und fast in Tränen ausbrach, beiseite genommen und ihn gefragt: »Was ist eine Illusion?«
»Wissenschaft und Logik«, hatte Malerick sofort geantwortet. (Der Mentor pflegte seinen Mitarbeitern Hunderte solcher Leitsätze einzuprägen.)
»Wissenschaft und Logik, ganz recht. Falls es zu einer Panne kommt – ob nun durch dich selbst, deinen Assistenten oder durch Gott höchstpersönlich –, nutze Wissenschaft und Logik, um sofort wieder die Initiative zu ergreifen. Zwischen dem Fehler und deiner Reaktion sollte nicht einmal eine Sekunde vergehen. Sei kühn. Reagiere auf dein Publikum. Verwandle die Katastrophe in Applaus.«
Als Malerick sich dies nun vergegenwärtigte, wurde er ganz ruhig. Er hob den Kopf, schaute sich um und erwog, was zu tun war.
Sei kühn. Reagiere auf dein Publikum.
Verwandle die Katastrophe in Applaus.
Sachs nahm die Leute in ihrer Umgebung ein weiteres Mal in Augenschein – eine Mutter und ein Vater mit zwei gelangweilten Kindern, ein älteres Ehepaar, ein Biker mit Harley-Hemd, zwei junge Europäerinnen, die mit einem Verkäufer wegen ein paar Schmuckstücken feilschten.
Ein Stück entfernt sah sie Bell neben dem Stand der Marktleitung stehen. Doch wo steckte Kara? Die
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