Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
junge Frau sollte eigentlich bei einem von ihnen bleiben. Sachs wollte dem Detective zuwinken, aber eine Menschentraube schob sich dazwischen und blockierte die Sicht. Amelia ging in seine Richtung und hielt dabei unablässig nach allen Seiten Ausschau.
Ihr wurde klar, dass sie genauso beunruhigt war wie am Morgen in der Musikschule, obwohl der Platz hier bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein alles andere als bedrückend wirkte.
Gruselig…
Sie wusste, woran es lag.
Am Draht, wie die Polizisten es zu nennen pflegten.
Wenn man zu Fuß auf Streife unterwegs war, hatte man entweder einen Draht zu der jeweiligen Gegend oder nicht. Es ging nicht bloß darum, die Anwohner und die Örtlichkeiten zu kennen; man musste spüren, wie die Leute strukturiert waren, mit welcher Art von Tätern man zu rechnen hatte, wie gefährlich sie sein würden und was ihren Opfern drohte – oder einem selbst.
Falls man keinen Draht zu dem betreffenden Viertel fand, konnte man sich die Arbeit dort von vornherein schenken.
Und zu dem Hexer, so erkannte Sachs nun, hatte sie nicht den geringsten Draht. Er saß vielleicht schon längst in der Linie Neun und fuhr Richtung Downtown. Oder er stand einen Meter neben ihr. Sie wusste es einfach nicht.
Genau in diesem Moment ging jemand dicht hinter ihr vorbei, und sie spürte einen Atemzug oder den Lufthauch eines Kleidungsstücks im Nacken. Zitternd vor Schreck fuhr sie herum und legte die Hand auf den Kolben der Waffe – sie hatte nicht vergessen, wie leicht es Kara gefallen war, sie abzulenken und nach ihrer Pistole zu greifen.
In ihrer unmittelbaren Umgebung hielten sich fünf oder sechs Leute auf, aber keiner davon nahe genug, um als Verursacher in Betracht zu kommen.
Oder doch nicht?
Ein Mann entfernte sich von ihr. Er humpelte. Das konnte nicht der Hexer sein.
Oder doch?
Immerhin war der Hexer in der Lage, binnen weniger Sekunden die Identität zu wechseln, oder?
Und die anderen? Das ältere Ehepaar, der Biker mit dem Pferdeschwanz, drei Teenager, ein massiger Mann in der Montur der Stadtwerke: Sachs tappte vollständig im Dunkeln. Sie war frustriert und voller Sorge.
Kein Draht…
Und plötzlich schrie eine Frau auf.
»Da! Seht!«, rief jemand. »Mein Gott, sie ist verletzt.«
Sachs zog die Waffe und lief zu der Menschenansammlung, die sich blitzschnell gebildet hatte.
»Holt einen Arzt!«
»Was ist denn da los?«
»O Gott, sieh nicht hin, Liebling!«
Immer mehr Leute strömten am östlichen Rand des Platzes in der Nähe der Marktleitung zusammen. Bestürzt starrten sie auf die Person, die dort am Boden lag.
Sachs hob ihr Funkgerät an die Lippen, um einen Krankenwagen zu rufen, und drängte sich durch die Menge. »Lassen Sie mich vorbei, lassen Sie…«
Sie erreichte die vorderste Reihe der Schaulustigen und keuchte auf.
»Nein«, flüsterte sie und erschauderte vor Entsetzen.
Dort auf dem Pflaster lag das nächste Opfer des Hexers.
Es war Kara. Blut bedeckte ihr dunkelviolettes Oberteil und bildete eine Lache. Ihr Kopf war nach hinten geneigt, und der Blick ihrer reglosen toten Augen verlor sich im blauen Nachmittagshimmel.
…Achtzehn
Sachs schlug sich wie betäubt eine Hand vor den Mund.
O Gott, nein…
Robert-Houdini hatte bessere Tricks drauf als die Marabuts. Obwohl sie ihn fast umgebracht haben, wenn ich mich recht entsinne.
Keine Angst. Ich sorge schon dafür, dass Ihnen so etwas nicht widerfährt…
Doch das hatte sie nicht. Sie war so sehr auf den Hexer fixiert gewesen, dass sie das Mädchen vernachlässigt hatte.
Nein, nein, Rhyme, manche der Toten kann man nicht vergessen. Diese Tragödie würde ihr bis in alle Ewigkeit zu schaffen machen.
Aber dann dachte sie: Es wird noch ausreichend Gelegenheit zur Trauer geben. Auch für die Schuldgefühle und Konsequenzen. Jetzt aber fang gefälligst an, wie ein verdammter Cop zu denken. Der Hexer ist in der Nähe. Und er wird
nicht
entkommen. Das hier ist ein Tatort, und du weißt, was zu tun ist.
Erstens. Die Fluchtwege abriegeln.
Zweitens. Den Tatort absperren.
Drittens. Zeugen ausfindig machen, abschirmen und befragen.
Sie winkte zwei Streifenbeamte heran, um einen Teil dieser Aufgaben zu delegieren, doch gerade als sie den Mund aufmachen wollte, erklang eine Stimme aus ihrem Funkgerät. »Wagen Vier Sieben an alle verfügbaren Einsatzkräfte im Umfeld des Zehn-vierundzwanzig am Fluss. Verdächtiger hat soeben Sperre am östlichen Ende des Marktes durchbrochen. Befindet sich jetzt zu Fuß in
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