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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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jener Monstren. Auch die Baba Jaga ist eben kein Hirngespinst, sondern eine quietschfidele Waldhexe.
    Er hatte keine Kraft, sich dem bösen Zauber zu widersetzen. Und als die Baba Jaga Mitja huckepack nahm, da winselte er nur jämmerlich. Sie brachte ihn weg, wahrscheinlich irgendwo hinter die dunklen Wälder und blauen Seen, in schwarze Sümpfe und tiefe Höhlen. Sie knurrte:
    »Is der abber swer, der! Wohin mit dem, wohin? Müllers Mühle? Ssaff ich nich. Besser ssu Daniel dem Gerechten. Ja, ssu Daniel, das ist gut. Jaja.«
    Er verstand den Sinn ihrer Zaubersprüche nicht, denn – bedingt durch die Kälte, seine Schwäche und Angst – hatte sein Hirn den Denkstrom eingestellt. Das Einzige, was blieb, war Wildes, Dunkles, aus frühester Kindheit: Die Baba Jaga würde ihre Beute jetzt in ihre auf Hühnerfüßen stehende Hütte schleppen und sie auffressen, die Knochen würde sie ausspucken.
    Auf würdige antike Weise fortzugehen, gelang ihm nicht. Sein Leben endete irgendwie sehr russisch, sehr kindlich und furchtbar schrecklich.
    Mitja fing leise an zu weinen. Er wollte nach seiner Mutter rufen und sah sie sogar vor sich: ganz rosig und nach Veilchenessenz duftend; aber Mutter saß vor dem Spiegel und sah sich nicht nach dem armen Kleinen um.
    Die Hexe legte den Gefangenen auf einer kleinen Lichtung in den Schnee. Er richtete sich ein wenig auf und sah ein Blockhaus mit einem winzigen Glimmerfenster, in dem widernatürlich gleißendes Licht brannte. Die Hühnerfüße unter der Hütte konnte Mitja nicht sehen – wahrscheinlich hatte der Schnee sie zugeweht.
    Die Alte schlug mit dem Eisenring laut gegen die Tür, nahm dann auf einmal ihre Rockzipfel in die Hand und sauste mit überraschender Behändigkeit in den Wald. In Nullkommanichts war sie weg, die Dunkelheit hatte sie verschluckt.
    Das seltsame Benehmen der Hexe machte Mitja noch mehr Angst, aber geht das überhaupt, kann man denn überhaupt noch mehr Angst haben?
    Sie hat mich zu jemandem gebracht, dem sie mich als Geschenk, als Opfer anbieten will, schloss er. Irgendein Ungeheuer, das über ihr steht, also noch schrecklicher als sie selber ist. Was gab es außer der Baba Jaga bei der Amme Malascha noch an Waldgeistern? Den Erlkönig gab es. Der sich zu den Leuten, die durch den Wald fahren, leise hinten auf das Fuhrwerk setzt und ihnen die kleinen Kinder stiehlt. Wie hatte Malascha noch gesungen? »Setzt sich der Erlkönig dazu, Mitenka, Vorsicht, weg bist du!«
    Die Tür rasselte, und vor Mitja stand der Erlkönig.
    Er ähnelte der maskierten Gestalt, die der Thronfolger gestern dargestellt hatte, überhaupt nicht. Der wirkliche Erlkönig war groß und schlank, gerade wie ein Stock, mit einem langen grauen Bart und schulterlangen grauen Haaren, aber schwarzen Brauen. Auch die Augen waren schwarz und glänzten. Sie blickten streng von oben nach unten auf den zusammengekauerten Mitja. Eine volltönende Stimme, die absolut nichts Greisenhaftes hatte, sagte drohend:
    »Was ist denn das für eine Apparitio? Findelkinder, das hat mir gerade noch gefehlt! Meint ihr, das ist hier ein Waisenhaus?«
    Er stieg über Mitja hinweg und sprang so, wie er war, nur mit einem schwarzen, mit einer Lederschnur umgürteten Wams bekleidet, auf die Lichtung. Er drehte den Kopf nach rechts und nach links, aber, wie schon gesagt, die Baba Jaga war spurlos verschwunden.
    Da wandte sich der Erlkönig Mitja zu und überschüttete ihn mit seinem Zorn:
    »Na, du Teufelchen, untersteh dich, nicht zu sagen, wer deine Eltern sind und aus welchem Dorf du kommst. Aus Saltanowka? Oder aus Pokrowskoje? Ich kriege es sowieso heraus und bringe dich zurück! Ach, was die sich da wieder haben einfallen lassen, diese undankbaren Plebejer!«
    Er stampfte zornig mit dem in einem kurzen Filzstiefel steckenden Fuß auf.
    »Willst du da noch lange liegen bleiben? Die ganze Kälte dringt in die Hütte! Komm rein, ich kann dich doch nicht draußen lassen. Aber morgen früh, das sag ich dir, da bringe ich dich zum Popen nach Pokrowskoje. Soll der sich doch den Kopf zerbrechen! Los, steh auf!«, schrie er so wild, dass Mitja aufstehen wollte und aufschrie.
    »Was hast du denn? Was ist denn mit deinem Fuß?«
    Er hob den Jungen ohne Anstrengung hoch und trug ihn in die Hütte.
    Die Behausung war auf den ersten Blick ganz einfach: ein aus Brettern gezimmerter Tisch, statt eines Stuhls ein ausgehöhlter Baumstumpf, ein verrußter Ofen, aber an der Wand hingen Regale mit Büchern, und die einzige Kerze brannte

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