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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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und das Wohnzimmer – er wusste selbst nicht wohin und wozu.
    Valja, die sich ohne Perücke wieder in einen Jüngling verwandelt hatte, klimperte immer noch sinnlos mit den Augen.
    »Wohin?«, stammelte er. »Pourquoi?«
    Aber er stellte sich auf die Beine. Er schwankte, fiel jedoch nicht um.
    Sie traten durch die Glastür der Veranda in den Garten. Valja an der Taille festhaltend, bahnte sich Fandorin einen Weg durch die nackten, stacheligen Büsche, wobei er an den Zweigen güldene und silberne Fäden hinterließ.
    Sie kämpften sich irgendwie durch, stießen aber nur auf einen riesigen Zaun, der die Siedlung umgab.
    »Und wohin jetzt?«, fragte Nicholas und packte den immer noch nicht zurechnungsfähigen Valja am Kragen.
    Aus dessen Nase kam nach wie vor Blut; und auf der Wange prangten zwei frische lange Kratzer – die stammten offenbar von den Büschen.
    Valja fasste an seine Nase und jammerte:
    »Meine Nase ist gebrochen! O Gott, o Gott! Was für ein Albtraum! Guck mich nicht an! Bitte, guck mich nicht an!«
    Und er hielt den Ärmel vor das entstellte Gesicht.
    »Wir müssen verschwinden!«, schrie Fandorin ihm ins Ohr. »Kommt man aus der Siedlung irgendwie raus, ohne an der Wache vorbeizumüssen?«
    »Ja«, kam von Valja. »Da.«
    Sie rannten an dem Zaun entlang. Glen kam schon ohne Hilfe klar, lief aber noch in Schlangenlinien.
    Sie kamen an den fahlen Hecken und dem gemähten Rasen vorbei, auf dem zwei weiße, unbenutzte Schaukeln standen, und erreichten einen Pfosten mit einem Scheinwerfer, wo der Zaun im rechten Winkel nach links abbog.
    Ohne sein Gesicht zu zeigen, sagte Valja:
    »Hier ist eine Latte lose. Die habe ich letzten Sommer herausgebrochen. Ich hatte damals ein Techtelmechtel mit einem Maschinenschlosser von der Farm im Dorf.«
    Er zog den Nagel heraus und löste die Latte. Er kam ohne irgendwelche Schwierigkeiten durch die schmale Ritze, während Fandorin sich schwer tat.
    Vor ihnen lag ein graues Herbstfeld, dahinter zeichnete sich Wald ab.
    Mit den Pantoffeln durch den schmatzenden Schlamm watend, lief Nicholas vor. Er drehte sich um und sah, dass Valja sich nicht vom Fleck rührte.
    »Was ist denn? Schneller! Wir müssen den Wald erreichen, bevor sie uns entdecken!«
    Valja stand da, sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ihre Schultern hoben und senkten sich vom Schluchzen.
    Er musste zurückgehen.
    »Was hast du denn? Los, wir müssen rennen!«
    »Geh fort!«, schluchzte Glen und wandte sich ab. »Lauf alleine, ich . . .«
    »Was heißt denn hier › allein ‹ ? Wohin denn › allein ‹ ?«
    Der Mensch der Zukunft nuschelte, wobei er wohl zum ersten Mal im Leben wirklich nicht mehr wusste, ob er nun Männlein oder Weiblein war:
    »Ich möchte nicht, dass du mich so siehst . . . Ich schaffe es schon alleine. Lauf. Hinter dem Wald ist ein Bahnhof. Vier Kilometer nach Osten . . .«
    »So ein Unsinn! Die bringen dich um!«
    »Ich gehe zu der Farm, zu Wolodja . . .«
    »Was denn für ein Wolodja?«
    »Na, der Maschinenschlosser, hab ich doch gesagt. . . Der ist in Ordnung . . . Zwar denkt er, ich bin ein Mädchen . . . Aber ich sag ihm, ich hab mir die Haare abgeschnitten. Das ist jetzt der letzte Schrei. . . Nun mach doch endlich, dass du wegkommst!«
    Valja stampfte zornig auf und schluchzte noch heftiger.
    Fandorin suchte die Ritze im Zaun und rannte über das Feld zum Waldsaum. Als er sich einen Augenblick später umdrehte, war von Valja nichts mehr zu sehen.
    Er blickte nicht mehr zurück, bis er bei den Bäumen angekommen war. Erst als er hinter dem ersten Busch stand, holte er Luft, schob die Zweige beiseite und schaute hindurch.
    Die Cottage-Siedlung »Auf den Bergen« sah aus wie eine Märcheninsel, die aus dem Meer aufgetaucht war: hinter der Mauer waren Türmchen, Wetterfahnen und Satellitenschüsseln zu erkennen. Wie hieß es doch noch in dem Märchen: »Da sah er ein Eiland im Meer, und auf diesem Eilande stand eine Stadt. . .«
    Er blieb ein Weilchen stehen und presste seine heiße Stirn gegen die feuchte kalte Eichenrinde. Bevor er losging (es waren ja nur vier Kilometer, oder?), holte er die Pistole aus der Tasche, streifte das Mordinstrument mit einem Blick voller Ekel und warf es in einen Graben, welcher, der Farbe des Wassers nach zu schließen, selbst im Sommer nicht austrocknete.
    Anfangs schritt er schnell aus und blickte sich für alle Fälle ab und zu um. Er knöpfte den idiotischen Morgenmantel auf – es war heiß. Was vor fünf oder höchstens zehn Minuten

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