Der Favorit der Zarin
Laterne erreichte, zog er den Morgenmantel aus und warf ihn in den Graben. Sich in einem solchen Aufzug den Leuten zu zeigen, war zu viel des Guten; dann schon lieber im bloßen Hemd.
Die Lage des flüchtigen »Schweins und Betrügers« war, zurückhaltend ausgedrückt, wenig beneidenswert: ohne Mantel, praktisch barfuß, er hatte kein Geld und keine Ahnung, wo er hin sollte. Aber während des langwierigen Waldspaziergangs hatte Nicholas einen Plan aus gebrütet, unter den gegebenen Umständen den einzig möglichen.
Es gab auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen, der dem Paria helfen konnte, vorausgesetzt, er wollte es. Nicki meinte, trotz des kurzen und, wie man jetzt zu sagen beliebt, nicht unproblematischen Kontaktes würde ihm dieser Mann seine Hilfe nicht verweigern.
Aber er musste zuerst eine technische Schwierigkeit überwinden: ihn trotz seiner totalen Liquiditätsschwäche anrufen.
Fandorin trat vor dem Bahnschalter von einem Bein aufs andere und spähte durch den Spalt der geöffneten Tür mit dem Schild »Bahnhofsvorsteher«. Da saß eine beleibte Dame mit Schirmmütze und las einen Taschenbuchroman. Auf dem Tisch stand das heiß ersehnte schwarze Telefon.
Nicholas zauberte das charmanteste Lächeln, das er in seinem Arsenal hatte, auf sein Gesicht und steckte den Kopf durch den Türspalt.
»Entschuldigen Sie um Gottes willen, dass ich Sie beim Lesen störe«, sagte er. »Ich habe eine Riesenbitte . . .«
Die Beamtin legte den Roman mit dem Rücken nach oben auf den Tisch und schaute unzufrieden auf den langen Lulatsch, der nur ein Hemd anhatte.
»Mir ist etwas Unangenehmes passiert«, fuhr der Magister fort. »Ich habe meine Jacke verloren, in der meine Brieftasche war. Ob ich einmal in Moskau anrufen dürfte?«
»Das ist ja hochinteressant, wo die Leute heutzutage so ihre Jacken verlieren«, antwortete die Dame. »Sie sehen gar nicht aus, als ob Sie betrunken wären. Da ist wohl der Ehegatte zur falschen Zeit von seiner Reise zurückgekehrt?«
Auf dem Umschlag des Taschenbuchs war ein Medaillon in Herzform abgebildet; in diesem Medaillon prangte eine halbnackte Schönheit, an die Brust eines muskulösen Machos geschmiegt; darunter der Titel: »Verbotene Frucht.«
Vielleicht sollte er sich auf das Spiel einlassen? Wenn diese Frau gerne Liebesromane las, verwöhnte das Leben sie offenbar nicht mit romantischen Abenteuern. Die Frage war nur, auf wessen Seite ihre Sympathien lagen, auf der Seite der betrogenen Ehefrauen oder auf der der leidenschaftlichen Liebhaberinnen. Dem Aussehen nach war sie keine Herzensbrecherin, aber wenn sie sich für unerlaubte Früchte interessierte . . .
»So was Ähnliches«, antwortete er bescheiden und senkte pikant den Blick.
Nach einer lastenden Pause sagte die Beamtin:
»Rufen Sie an. Und zwar schnell. Diese Leitung muss eigentlich frei bleiben.«
Nicholas wählte die Nummer der Freundin von Hauptmann Wolf und gab sich Mühe, nicht daran zu denken, sie könne außer Haus sein.
Die Leserin der »Verbotenen Frucht« saß mit vor der Brust verschränkten Armen da und blickte Fandorin streng an – sie wartete auf schlüpfrige Einzelheiten. Das erschwerte die ohnehin nicht einfache Aufgabe noch mehr. Wie sollte er in Gegenwart dieser Gorgo einer völlig unbekannten Person namens Tanja die Sachlage darstellen?
»Nimmt keiner ab?«, fragte die Tante schadenfroh und griff nach dem Apparat. »Ich kann Sie nicht noch einmal anrufen lassen. Das ist nicht statthaft.«
Hurra! Man hörte eine junge Frauenstimme:
»Hallo.«
»Ist dort Tanja?«
»Ja. Wer ist denn da?«
»Ich bin ein Freund von Sergej«, sagte Nicholas, vorsichtig die Worte wählend und ohne die über dem Telefon hängende dicke Hand aus den Augen zu lassen. »Wir sind Arbeitskollegen . . . im Fernsehstudio. Er hat Ihnen sicher von mir erzählt.«
»Ja und?«, fragte Tanja ohne eine Spur von Begeisterung, stellte aber Gott sei Dank auch nicht die Gegenfrage: »Von was für einem Fernsehstudio denn?«
»Sagen Sie ihm, ich bin am Bahnhof Lepeschkino an der Eisenbahnlinie nach Riga. Und richten Sie ihm doch bitte außerdem aus, dass ich in einer äußerst schwierigen Situation bin.«
»Sehr angenehm«, antwortete Tanja etwas unpassend und führte ihren Gedanken weiter, indem sie hinzufügte: »Verflixte Wanzen, ihr.«
»Wer?«, fragte Nicki verblüfft.
»Ihr Männer. Sobald man ein wenig nachgibt, fangt ihr an, den Macker zu spielen. Ich bin eure Milizspielchen leid.«
Und es tutete im
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