Der Favorit der Zarin
geschehen war, daran versuchte er nicht zu denken. Es war klar, er würde jetzt nicht mehr wie früher leben können, aber das musste er nicht jetzt bedenken: später, später. Er musste sich erst mal möglichst weit entfernen und wieder einen kühlen Kopf kriegen.
Tatsächlich wurde es Fandorin schneller kühl, als ihm lieb war. Zuerst zog er den Morgenmantel zu, dann schlug er den Kragen hoch und versteckte die Hände in den weiten Ärmeln mit den Manschetten.
Teufel, wie kalt es war!
Worüber wunderte er sich eigentlich: Es war Mitte November. Wie viel Grad es jetzt wohl war? Zwei oder drei. Mehr kaum.
Er war Hals über Kopf in den Wald gestürzt, aber wo war hier eigentlich Osten? Nicki blieb stehen und sah sich um.
Der Moskauer Wald ist im November menschenleer und ungemütlich. Die Leute gehen da nicht hin, weil es nichts Interessantes gibt: Der goldene Herbst ist vorbei, und für Spaziergänge auf Skiern ist es noch zu früh.
Durch die Abwesenheit von Menschen hatte sich dieses winzige Wäldchen im Einzugsbereich von Moskau auf wunderbare Weise den Reiz wilder Natur zurückerobert.
Es war sehr leise und düster. Es roch nach Tod.
Auf einer Lichtung sah man einen verkohlten Lagerfeuerrest, zwei Ziegelsteine und ein paar leere Flaschen. In einer Pfütze blitzte ein Stück Folie. Das war alles, was hier von Menschen zurückgelassen worden war. Nicholas dachte auf einmal, dass es nur noch eine bestimmte Zahl an Jahren währt, dann wird die Menschheit genauso von der Erdoberfläche verschwunden sein, wie die Datschabesitzer aus diesem Wald verschwanden. Und von der Menschheit werden nur sinnlose Bruchstücke und Trümmer übrig sein.
Er rief sich zur Ordnung: Jetzt war ja wohl nicht gerade Zeit zum Philosophieren. Also, wo war denn nun Osten?
In Büchern heißt es, die Nordseite der Bäume ist moosbedeckt. Aha, da auf der Birke war ein grüner Samtstreifen. Wenn man davor steht, müsste der Osten also links sein.
Aufgemuntert schlug Fandorin diesen Kurs ein und schritt recht munter fürbass, bis er direkt vor seiner Nase auf eine andere Birke stieß, die ihm eine ebenso moosbedeckte Seite zuwandte.
Wie konnte das sein? Dann hatte er sich also nicht in östlicher, sondern in südlicher Richtung bewegt?
Nicholas warf den Kopf in den Nacken und schaute in den grauen, allmählich dunkel werdenden Himmel. Und stellte sich vor, wie er von da oben aussah: ein merkwürdiges Wesen in buntem Morgenmantel und Hausschuhen und um ihn herum nur die nackten Skelette der Bäume.
Wie der Zarensohn Iwan in dem verzauberten Märchenwald, nur der böse Wolf war nicht da.
Und kaum hatte er das gedacht, da raschelte in der Nähe das gefallene Laub. Nicholas zuckte zusammen, blickte sich um, und er wollte seinen Augen nicht trauen, als er über dem Baumstamm eine graue pelzige Schnauze mit gerunzelter Stirn, spitzen Ohren und stechenden Augen sah, die einen Augenblick lang in einem unguten Phosphorglanz aufleuchteten.
Nein, das war nicht der böse Wolf, sondern nur ein böses Wolfsjunges. Genauer gesagt: eine Promenadenmischung, unter deren Ahnen sich mit Sicherheit auch ein Schäferhund befunden hatte.
Fandorin freute sich über das Lebewesen. Zu zweit war es lustiger.
Er pfiff, machte ein schmatzendes Geräusch und streckte die Hand aus.
Der Hund schaute genauso angespannt wie vorher. Er bellte nicht, knurrte nicht und rührte sich nicht von der Stelle.
Da ging er langsam auf ihn zu und sagte dabei:
»Na komm, keine Angst, du Hund. Lass uns Bekanntschaft schließen . . .«
Der Hund wich zurück. Dann trottete er durch den Wald, wobei er sich ständig umsah. Er lief nicht sehr schnell, als wüsste er nicht, ob er weglaufen sollte oder nicht.
Nicki lief hinter ihm her.
»Warte! Der Mensch ist doch dein Freund!«
Der Hund lief auf eine Lichtung, wo abgesägte, offenbar seit Ewigkeiten vergessene Pfähle lagen, und blieb stehen.
Fandorin kam angerannt und sah nicht sofort, dass neben dem Stapel eine ganze Hundemeute ihr Lager aufgeschlagen hatte. Ein Köter mit breiter Brust und halb kahlem Kopf stand auf und bleckte seine gelben Zähne. Sofort sprangen auch die anderen auf. Wie wenig diese Waldräuber den Hunden in der Stadt glichen! Keinerlei Schüchternheit oder Schmeichelei, keinerlei Gewedel mit dem Schwanz. Und die Augen nahmen Maß, schätzten ab, als was sie ihn einordnen sollten: als Gefahr oder Beute.
Nicki grauste; er erinnerte sich an einen Artikel, in dem er gelesen hatte, wie viele herrenlose Hunde
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