Der Favorit der Zarin
Hörer. Ob sie aufgelegt hatte? Oder ob die Verbindung unterbrochen worden war?
Er wollte die Nummer noch einmal wählen, um der unbeirrbaren Tanja die Dringlichkeit seiner Bitte klarzumachen, aber die Bahnhofsvorsteherin nahm ihm den Apparat weg.
»Nicht mehr als einen Anruf«, sagte sie. »Na, hat dich die Frau deines Freundes zum Teufel gejagt? Dann sieh man zu, wie du das auslöffelst, du geiler Bock. Die vom Fernsehen meinen aber auch, sie dürfen alles.«
Sie ist von der Ehefrauen-Fraktion, begriff Nicholas. Und interessiert sich nur für die verbotene Frucht, um die Psychologie des Gegners einschätzen zu können.
Er trottete zum Ausgang. Die böse Herrin des Bahnhofs Lepeschkino knurrte ihm nach:
»Versuch bloß nicht, dich ohne Fahrkarte in den Zug zu setzen. Abends ist nicht so viel Betrieb, da haben die Kontrolleure ein leichtes Spiel. Sobald sie einen schnappen, kommt der aufs Revier.«
Die Frage, die über seine Existenz entschied, lautete im Moment: Würde Tanja dem Hauptmann die Bitte ausrichten oder nicht? Alle anderen lebenswichtigen Fragen hingen von der Antwort ab. Wenn sie es ausrichtete, wie schnell würde sie das tun? Und würde der Fahnder kommen?
Warum sollte er eigentlich? Profitieren konnte er davon nicht, aber Unannehmlichkeiten konnte er sich durchaus einhandeln und zwar nicht zu knapp.
Fandorin setzte sich auf eine Bank in einen verglasten Warteraum, umschlang die Ellenbogen und zog den Kopf ein. Er zitterte vor Kälte und dachte nach. Außer diesen beiden Dingen konnte er ohnehin nichts tun.
Was sollte er machen, wenn Wolf nicht käme?
Er müsste sich wohl der Miliz stellen. Auch wenn es Notwehr war, immerhin war ein Mord geschehen. Man würde ihn bis zur Gerichtsverhandlung einsperren. Da war es wenigstens warm. Und ungefährlich.
Aber war es wirklich ungefährlich? Wenn diese Leute Kenntnis davon hatten, wer in dem streng geheimen Einsatz- und Untersuchungsstab zum Fall der »Unfassbaren Rächer« welche Funktion hatte, und wenn sie, wie der Anführer gesagt hatte, ohne Probleme Zutritt zum Kreml hatten, würden sie wohl auch im Untersuchungsgefängnis an einen herankommen können.
Und es gab noch eine weitere Schwierigkeit: Die Miliz würde wissen wollen, woher der Bürger Fandorin eine Schusswaffe hatte. Sollte er etwa Valja verraten?
Als hätte ihm das gerade noch gefehlt, tauchte in diesem Moment ein Milizionär auf.
Allerdings keiner von höherem Rang, sondern nur ein einfacher Sergeant.
»Was sitzen wir denn so herum?«, fragte er interessiert. »Schon drei Züge sind durchgefahren, und Sie sitzen immer noch da und sonnen sich. Und so leicht angezogen. Hat man Sie beklaut?«
Fandorin schwankte eine Sekunde und log dann:
»Nein, es ist alles in Ordnung. Mein Auto ist kaputt. Ich warte, bis es repariert ist, und wärme mich hier auf.«
»Wer repariert es denn? Ljocha von der AuRepWerk?«
Was AuRepWerk ist, wusste Nicholas nicht, nickte aber. Beruhigt nahm der Beamte seinen Patrouillengang wieder auf.
Fandorin befand sich nicht zum ersten Mal in einer lebensgefährlichen Situation. Nicht, dass er diese Situationen liebte – ganz im Gegenteil. Aber offenbar war das sein Schicksal: Er war ein Magister der Geschichte, der in eine Geschichte nach der anderen hineingeriet. Die Spezies Homo sapiens hat mehrere Unterarten. Es gibt Menschen, deren Leben glücklich und ruhig verläuft, und es gibt solche wie Nikolaj Alexandrowitsch Fandorin, denen ständig irgendein Malheur passiert. Bemerkenswert ist dabei, dass in seiner ersten Lebenshälfte, die er in England verbrachte, nichts dergleichen passierte; alle Widrigkeiten hatten mit der Übersiedlung nach Russland eingesetzt. Das liegt eben an diesem Land: es lässt einen nicht auf friedliche Weise alt werden, sondern haut einen um und wirft einen aus dem Gleis, fühlt einem auf den Zahn und prüft einen auf Herz und Nieren.
Vielleicht ist das auch besser so? In einem normalen Land kann man hundert Jahre leben, ohne auch nur eine einzige ernste Prüfung bestehen zu müssen, so dass man wahrscheinlich auch nicht erfährt, wer man eigentlich ist und was man im Extremfall aushält. Seine englischen Bekannten sagten: Nicki Fandorin ist verrückt geworden. Nach Russland zu ziehen, die Staatsbürgerschaft zu wechseln – was für ein Wahnsinn! Aber wenn man davon ausgeht, dass es das Hauptziel im Leben ist, sich selber zu verstehen, Schwaches und Schlechtes an sich zu überwinden und dadurch stärker und besser zu werden, dann
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