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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Gemeinschaft zusammen, deren Mitglieder ihre eigene Vollkommenheit zu bescheiden einschätzten, als dass sie die Umgestaltung des menschlichen Zusammenlebens anstrebten, und die deshalb vor allem nach der Erkenntnis von Gott, Natur und dem eigenen Ich – denn diese drei Geheimnisse sind eigentlich eins – suchten.«
    »Ich verstehe nicht ganz . . .« Pawlina runzelte die Stirn. »Was Ihr sagt, ist nicht ganz klar.«
    Was gibt es dann da zu verstehen?, ärgerte sich Mitja. Sie hindert einen nur zuzuhören! Er räusperte sich sogar vor Ärger und ruckte so mit dem Kopf, dass die wunderbare Saporoger Mütze auf den Boden flog und er sie aufheben musste.
    Daniel dagegen reagierte überhaupt nicht gereizt, sondern nickte zustimmend, als sei die Begriffsstutzigkeit der Chawronskaja ganz natürlich.
    »Wisst Ihr denn nicht, meine liebe Gräfin, dass die wichtigsten Geheimnisse und die wichtigsten Ereignisse sich nicht außerhalb von uns, sondern in unserem Inneren abspielen? Alles, was um uns herum geschieht, sind nur Fragen, die uns gestellt werden, und unsere Taten sind die Antworten, die uns entweder dem Geheimnis, das in uns versteckt ist, näher bringen oder davon entfernen. Wir, die Bruderschaft des Gold- und Rosenkreuzes, wollten zunächst unsere eigene Organisation verstehen und erst, falls diese sich bewährt hätte (und nur in diesem Fall), auch andere auffordern, sich uns anzuschließen und mit uns zu dieser Stadt der Wunder zu ziehen. Aber diese ganze Suche war natürlich nur ein Teil meines Lebens, vielleicht der wichtigste und größte, aber sie hinderte mich nicht daran, im Übrigen ein normales Leben zu führen. Von meinen Reisen brachte ich ein Weib mit, ließ mich mit ihr in Moskau nieder und begann das Leben eines glücklichen Familienvaters.«
    »Dann seid Ihr also verheiratet?«, fragte Pawlina und lächelte erfreut über diese unerwartete Nachricht. »Und wie heißt Euer Weib?«
    »Sie hieß Giulia«, antwortete Vondorin mit leiser Stimme, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden. »Sie war das bildschöne Kind eines sonnigen Landes, voller Leben und Liebe; doch ich habe sie zugrunde gerichtet, und das ist das erste der von mir verübten Verbrechen, für die mich mein Gewissen jeden Tag peinigt.«
    »Ist sie ums Leben gekommen?« Die Gräfin schlug die Finger vor den Mund, ihre Wimpern zuckten gefährlich; es war nicht zu übersehen, dass in ihren weit aufgerissenen Augen die Tränen standen. »Ich glaube nicht, dass die Schuld dafür bei Euch liegt.«
    »Sie hat die Widrigkeiten unseres Klimas nicht ausgehalten. Wer hat sie denn ausgerechnet zu Beginn des Winters hierher gebracht? Ich. Ich konnte es nicht erwarten, wieder mit meinen Gesinnungsgenossen zusammen zu sein und die bei den Wanderungen erworbenen Kenntnisse praktisch anzuwenden. Ich brachte das fügsame Mädchen, das gerade Mutter werden sollte, in ein fremdes, kaltes Land. Giulia sehnte sich so nach dem Frühling, nach Wärme und Sonne; sie starb in einer verschneiten Nacht im blinden Monat Februar . . .«
    Da rollten die Tränen über Pawlina Anikitischnas Wangen, leicht und reichlich. Vondorin schwieg ein Weilchen, hustete dann und setzte seine Erzählung fort.
    »Sie starb bei der Geburt in meinen Armen. Ich hätte wahrscheinlich vor Kummer den Verstand verloren oder Zuflucht bei dem letzten Mittel gegen unerträglichen Schmerz, dem Selbstmord, genommen, wenn ich nicht das Bedürfnis gehabt hätte, das Kind zu retten. Mein Sohn war sehr schwach und klein, als er auf die Welt kam. Da ich selber Arzt bin, hatte ich keine Hoffnung, dass der Junge überlebt, kämpfte aber mit der Wut der Verzweiflung um sein Leben und schaffte, dem Verstand sei Dank, das Unmögliche. Das Kind überlebte. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, was für ein übervorsichtiger und ängstlicher Vater ich nach all dem geworden war. Mein Sohn war kränklich und hinfällig; deshalb nannte ich ihn Samson, der Name des biblischen Helden sollte ihm Gesundheit und Kraft verleihen. So lebten wir also zu zweit, und meine Existenz hatte einen doppelten Sinn: einen höheren, der mir im Zeichen des Gold- und Rosenkreuzes leuchtete, und einen alltäglichen, ohne den das Leben dürr und undenkbar ist. Und dann, vor zwei Jahren, brachen in Moskau die Ereignisse über uns herein. Das heißt, eigentlich geschahen sie zuerst gar nicht in Moskau, sondern in Paris, wo die Menge dem letzten Bourbonen den Kopf abschlug, aber nachdem die Welle der Angst und des Wahnsinns mit Windeseile ganz

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