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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Weggefährtin aus, sie soll den Kosaken und die Pekesche vergessen. Jeder Versuch, diesen Verlust rückgängig zu machen, wird schlimme Konsequenzen für sie haben.«

DREIZEHNTES KAPITEL
    GEBORGTES LEBEN
    (Remarque, 1959-61)
    Man kann nie wissen, wofür etwas gut ist . . . Diese simple Weisheit kam Nicholas mehrfach in den Sinn, während er mit dem gemächlichen Güterzug in nordwestlicher Richtung fuhr. Das Leben hatte den Magister vieler Dinge beraubt, aber es hatte ihn auch vieles gelehrt.
    Zum Beispiel ein neues Verhältnis zu den Hauptkategorien der Bewegung, nämlich Zeit und Raum, zu entwickeln. Die gewohnten Vorstellungen erwiesen sich als falsch. Wenn der Zug hielt, verschwand der Raum, nur die Zeit schritt fort; wenn er aber mit voller Geschwindigkeit dahinstürmte, war alles umgekehrt.
    Auch von seinem Weggefährten Mischa konnte er einiges lernen. Er war ein Narr in Christo, mit dem man leicht zurechtkam, einer aus der nie aussterbenden Schicht russischer Vagabunden, die sich innerhalb der tausendjährigen Existenz Russlands gar nicht so sehr geändert hat. Man konnte sich Mischa gut in der Zeit vor hundert oder zweihundert Jahren vorstellen. Klar, statt der alten Sportschuhe hätte er Schuhwerk aus Bast an und statt der chinesischen Lederjacke irgendwelche Lumpen, aber die kindlich unschuldigen Augen würden die Welt mit derselben Neugier betrachten, das Bärtchen hinge genauso herunter wie ein Bastwisch, und seine Sprache wäre genauso irreführend einfach. Die sozialen Erschütterungen, die Arbeitslosigkeit und der Zusammenbruch des sowjetischen Systems hatten in diesem Fall keine Auswirkungen gehabt – Mischa streunte schon zwanzig Jahre durch Russland und hatte die Strecke von Wladiwostok nach Wyborg mehr als einmal zurückgelegt.
    Der zweitägige Kontakt mit dem zeitlosen Mischa, die Tatsache, dass er aus seinem gewohnten Lebenszusammenhang herausgerissen war, und das seltsame Ziel seiner Reise, eine Einsiedlerklause, all das ließ bei Fandorin den Eindruck entstehen, ein alter Traum von ihm habe sich endlich erfüllt, und es sei ihm gelungen, in die Vergangenheit zu gelangen. Allerdings nicht vollständig, sondern gleichsam nur halb: Er war irgendwo zwischen den verschiedenen historischen Epochen hängen geblieben. Übrigens genauso wie das Land, das er auf den Watteballen liegend an sich vorbeiziehen ließ.
    Es hatte sich so ergeben, dass er die ganzen sechs Jahre, die er als russischer Staatsbürger verbracht hatte, fast ununterbrochen in Moskau geblieben war. Die Provinz kannte er nur von den Datschen im Umland Moskaus und vom Weg zum Flughafen Scheremetjewo 2. Und nun zeigte sich, dass Russland ganz anders war und aus lauter Zeitsprüngen bestand.
    Mal zog ein Dorf vorüber, in dem es nur verfallene Hütten gab: ein, zwei rauchende Schornsteine, ein schiefer Glockenturm ohne Kreuz – das wirkte wie ein Bild aus der Zeit der Wirren. Mal prangte auf einem Hügel ein funkelnagelneues Kloster der Art, wie man sie so um 1870 baute, als die wilde Mischung aus klassischem und slawischem Stil die russischen Architekten schier zur Verzweiflung brachte. Und dann tauchte auf einmal eine moderne, energiegeladene Stadt auf, voller Neubauten und Mobilfunkreklame. Warum die einen Orte blühend aussahen und die anderen verwahrlosten, war unverständlich, und das Gefühl, dass Zeit und Raum hier ein rätselhaftes Spiel trieben, verstärkte sich dadurch noch.
    Am Bahnübergang 15 Kilometer vor Tschudowo endete die Zugstrecke von Nickis Reise; weiter musste er zu Fuß gehen.
    Mischa steckte Fandorin ein gekochtes Ei in die Tasche, das er beim letzten Halt ergattert hatte, riet: »Wickel dir etwas um die Schuhe, sonst bist du deine Füße los«, und Nicholas sprang auf die Böschung.
    Der Zug kroch im Schneckentempo, so dass es ohne Verletzung abging. Der Magister kullerte über den reinen, in der Nacht gefallenen Neuschnee, klopfte ihn ab und ging geradeaus über das Feld. Dann, so hatte Mischa erklärt, müsse man sich rechts halten, ein ganz kleines Stück die Landstraße entlanggehen und in den Wald abbiegen – da sei ein Wegweiser. Der Bettler wusste alles, war schon überall gewesen, darunter auch bei dem im Wald hausenden Greis, im vergangenen Frühling. Er hatte den heiligen Mann sehen und hören wollen, was er sagte. Aber trotz seiner Gesprächigkeit wollte Mischa nichts von seinen Eindrücken erzählen, er sagte nur: »Du wirst es schon selber sehen«, und lächelte rätselhaft.
    Der Wegweiser auf

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