Der Favorit der Zarin
der Landstraße fand sich tatsächlich: ein Holzpfosten, an dem eine ordentliche Tafel hing, auf der »Zum Gr. Syssoj« stand. Nicki erriet nicht sofort, was mit Gr. Greis gemeint war, und als er es verstanden hatte, schüttelte er nur verwundert den Kopf: Wer hätte gedacht, dass aus so einem Rübezahl ein heiliger Greis wird? Obwohl, andererseits gibt es in der Geschichte des Christentums und auch in anderen Religionen doch nicht wenige ähnlich gelagerte Fälle. Heilige, die früher große Sünder waren, sind entschieden überzeugender als solche, die früher ordentliche Mitglieder der Gesellschaft waren. Da sieht man das Wunder besser.
Der Weg durch den Wald war gepflegt und liebevoll mit Steinen ausgelegt. Diese Steine ruinierten Nicholas’ Schuhwerk endgültig, das ohnehin kurz vor dem Ableben stand. Er hatte nicht auf den erfahrenen Vagabunden gehört, hatte die zerrissenen Fetzen nicht umwickelt, hatte gemeint, er käme auch so zum Ziel. Und da löste sich die eine Sohle in Stücke auf, und nach hundert Schritten gab auch die zweite ihren Geist auf. Die Schuhe waren zu nichts mehr nutze, so dass Fandorin, als er in der Ferne den Bretterzaun und das mit einem Eichenkreuz geschmückte Tor sah, die sinnlosen Überreste wegwarf und nur mit Strümpfen bekleidet den Weg entlangstürmte. Irgendwie würde es schon gehen, es war nur noch ein kleines Stück – da war ja schon die Klause.
Ja, das war die Klause, aber sie zu betreten, war gar nicht so einfach. Am Tor drängelte sich eine Schlange, und hinter dem Zaun sah man einen Parkplatz, auf dem ein strahlender, lang gezogener BMW stand.
Er musste sich hinten anstellen und mal auf dem einen, mal auf dem anderen Bein hüpfen.
Vor Fandorin stand ein älteres Paar: eine Frau mit blassem, verweintem Gesicht und neben ihr ein grauhaariger Schönling athletischen Körperbaus. Er starrte auf Nickis Jacke (die Epauletten hatte er abgetrennt, aber die Knöpfe mit den Wappen waren ja noch da) und schmetterte ironisch:
»Sina, guck mal, da kommt ein Milizionär und will Abbitte für seine Sünden leisten. Tiptop in Pilgeruniform: barfuß und barhäuptig.«
Die Frau schlug den Kragen ihres Nerzmantels hoch, der schlecht zu dem schwarzen Nonnen-Kopftuch passte, und sagte vorwurfsvoll:
»Kostja, du hast doch versprochen.«
Der ironische Schönling bekam einen schuldigen Gesichtsausdruck.
»Entschuldigung, kommt nicht wieder vor. Frierst du? Setz dich doch so lange ins Auto.«
Und er zeigte auf die Limousine, woraus man entnehmen konnte, dass der BMW nicht das Eigentum des Einsiedlers war. Dem »Greis Syssoj« wäre das durchaus zuzutrauen, dachte Fandorin.
»Das geht nicht«, antwortete die Frau. »Das ist gegen die Regel.«
Mit Ausnahme dieses Paars standen in der Schlange ärmlich angezogene und niedergeschlagene Leute. Am Tor empfing sie ein Diener in Priestergewand und Käppchen. Er wechselte mit jedem ein paar Worte, notierte sich etwas und ließ ihn durch.
Als er sah, dass Nicki keine Schuhe anhatte, ging er auf ihn zu und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Warum kasteit Ihr Euch? Der Greis mag so etwas nicht. Zieht sofort Eure Schuhe an.«
»Ich habe keine«, murmelte Nicholas, irritiert über die Aufmerksamkeit, die seine nackten Füße erregten.
Der Klosterbruder wunderte sich nicht, sondern musterte den zwei Meter langen Fandorin nur mit einem Blick von Kopf bis Fuß, verschwand hinter dem Tor und brachte schon eine Minute später Latschen der Kollektion »Olle« an.
»Größe fünfundvierzig. Mehr haben wir nicht.«
Und er ging wieder seinen Pflichten nach.
Jetzt machte Nicholas das Warten nichts mehr aus, er weidete sich an der Wärme und war wunschlos glücklich. Ja, er lächelte sogar, als der grauhaarige Mann abfällig zu seiner Frau sagte:
»Wie die Schlappen, die man im Museum bekommt. Allerdings haben die keine Schnürsenkel.«
Und wieder rief ihn seine Frau zur Ordnung:
»Kostja!«
Und wieder guckte der Ehemann betreten.
»Du verstehst das nicht«, sagte sie leise. »Man muss daran glauben, darauf kommt es an. Auch du musst daran glauben. Sonst klappt es nicht.«
»Ich verstehe das ja«, antwortete der Mann. »Autosuggestion, Psychotherapie und all so was. Ich geb mir ehrlich Mühe, Sina.«
Sie griff erregt nach seiner Hand:
»Spürst du denn nicht, wie ungewöhnlich die Luft hier ist, wie die Stille widerhallt. Das ist so ein Ort der . . . wie war das Wort noch, ich habe es vergessen . . .«
»Magie?«, kam ihr der Mann zu
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