Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
Hilfe.
    »Nein, nein! Ich habe es vergessen!«
    Etwas so Einfaches wie ein vergessenes Wort rief bei der Frau einen wahren Ausbruch der Verzweiflung hervor – ihr Gesicht löste sich in Tränen auf.
    »Ist ja gut, ist ja gut«, tröstete sie der bestürzte Mann. »Was ist denn dabei? Das passiert mir doch auch, dass ich mal ein Wort vergesse.«
    »Aber nicht so eins! Ich sage es sonst immer . . . Wenn ich an einen Ort komme, wo viel gebetet wird.«
    »Ort der Einkehr«, sagte der Alte, der vor dem Ehepaar stand. »Na klar ist das hier ein Ort der Einkehr. In alten Zeiten lebte hier der heilige Daniel. Mit einer einzigen Berührung heilte er jede Krankheit, egal, ob Menschen oder Tiere des Waldes. Und wegen seiner Heiligkeit fuhr er zu Lebzeiten in den Himmel auf. Das war so: Die Einheimischen kamen auf diese Lichtung, und er war nicht da. Na, haben sie gedacht, vielleicht ist er Kräuter oder Wurzeln suchen gegangen, er wird schon wiederkommen. Auf dem Tisch brannte ja eine Kerze. Und dann loderte die auf einmal auf, hüllte alles in Licht, und das ganze Haus erstrahlte in einem himmlischen Feuer. Die das gesehen haben, konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen. Ein solches Zeichen ist hier geschehen. Und seitdem haben sich hier viele Wunder ereignet. Im letzten Krieg hatten die Deutschen hier einen Partisanentrupp umzingelt. Die einen töteten sie, die anderen fingen sie lebend und brachten die Kriegsgefangenen dann auf diese Lichtung, um sie zu erschießen. Auf einmal begann ihr Offizier, der ranghöchste SS-Mann, zu zittern und fuchtelte mit den Händen, als wolle er etwas wegscheuchen, das nur er sah. Und er befahl › Kehrt Marsch! ‹ . Und das Strafkommando zog ab, und die Partisanen überlebten. Mir hat jemand erzählt, der Greis Syssoj sei selbst einer dieser Partisanen.«
    »Was erfinden Sie denn für Geschichten?«, schaltete sich ein Mädchen ein, das nach Fasten aussah und genauso ein schwarzes Tuch trug wie die vergessliche Dame. »Haben Sie den Greis denn schon mal gesehen? Er ist höchstens fünfzig, bestimmt nicht älter. Ihre Partisanen müssten jetzt mindestens achtzig sein.«
    »Nee, meine Liebe, ich sehe schon, mit Ihrem Glauben ist es ja nicht weit her.« Und er fing geheimnisvoll an zu flüstern: »Mit achtzig aussehen, als ob man fünfzig wäre, das ist noch kein Kunststück. Ich will Ihnen mal etwas ganz anderes sagen: Der Greis Syssoj, das ist in Wirklichkeit Daniel der Gerechte. Im Krieg ist er als Partisan erschienen, damit die heilige Lichtung nicht durch einen Mord besudelt würde. Und nun ist er in der Gestalt eines Einsiedlers zurückgekehrt, weil die Zeiten jetzt so sind, dass wir ohne Gerechte alle untergehen. Meinen Sie, es ist ein Zufall, dass die Klause eben an diesem Ort gebaut wurde?«
    »Du willst doch nicht etwa, dass ich an diese Märchen der Scheherazade glaube«, warf der Grauhaarige seiner Frau leise vor.
    »An was?«, fragte sie verwundert. »Was denn für Märchen?«
    Der Mann blinzelte unsicher.
    »Aber Sina, was ist denn mit dir los? Die Märchen der Scheherazade: »Tausendundeine Nacht ‹ . Ali-Baba, Aladin. Steht bei uns im Regal, so ein schönes Buch mit Goldschnitt. Erinnerst du dich?«
    »Ja«, antwortete die Frau zweifelnd, »mir ist so, als wüsste ich . . .«
    Die Schlange kam relativ schnell vorwärts. Schon waren sowohl das Fasten-Mädchen als auch der Alte mit dem Hang zur Mystik hinter dem Tor verschwunden. Jetzt kam das wohlhabende Paar an die Reihe.
    Der Mönch hörte sich an, was die Frau ihm ins Ohr flüsterte, schlug eine neue Seite im Terminkalender auf und sagte: »Heute um zwei. Gehen Sie durch in die Klause, man wird Ihnen einen Platz zuweisen.«
    Der Besitzer der Limousine klopfte vielsagend mit seinem Knöchel gegen den Torrahmen und fragte:
    »Hören Sie mal, Mann Gottes, was verschanzen Sie sich so hinter Mauern und Riegeln gegen uns Unwürdige?«
    Die Frau packte ängstlich ihren unbändigen Ehemann am Ärmel, aber der Torhüter war nicht wütend über die dreiste Frage. Er antwortete etwas unverständlich:
    »Nicht wir verschanzen uns gegen euch, sondern ihr verschanzt euch gegen uns. Der Nächste bitte.«
    Er fragte Fandorin:
    »Was wollen Sie von dem Greis? Hilfe oder ein Gebet?«
    »Hilfe, ich brauche unbedingt Hilfe.«
    »Dann . . .«, sagte der Klosterbruder und blätterte im Inventarbuch, »übermorgen früh um Viertel nach sechs.«
    »Warum denn so spät?«, fragte Nicholas empört. »Denen da haben Sie einen Termin für heute

Weitere Kostenlose Bücher