Der Favorit der Zarin
Gesprächspartners zu Recht in einem Sinn, der ihr schmeichelte:
»Sie haben gedacht, Mira ist meine Tochter? Nein, nein, sie ist die Tochter meines Mannes. Das ist eine romantische Geschichte . . .« Frau Kuzenko machte eine vage Geste, gab aber keine Erklärungen, sondern hielt es für nötiger mitzuteilen: »Wir leben noch nicht lange zusammen, aber ich liebe Mira wie meine eigene Tochter.«
Von draußen hörte man, wie Räder über den Kies fuhren, und das Gesicht der Frau hellte sich auf.
»Das ist mein Mann! Er wird nur kurz bleiben, er muss bald wieder zur Arbeit, aber ich möchte, dass er einen Blick auf Sie wirft. Bleiben Sie bitte so lange sitzen.«
Und sie verließ den Raum und ließ Fandorin allein.
Höflicher wäre gewesen, wenn sie gesagt hätte, ich möchte Sie mit meinem Mann bekannt machen, korrigierte er die Arbeitgeberin in Gedanken und musste selber grinsen: Das hatte ihm gerade noch gefehlt, Lehrer für gutes Benehmen. Ob er nicht den Beruf wechseln sollte? Fünfzig Dollar pro Woche bei freier Kost und Logis, das war doch gar nicht so schlecht, oder?
Frau Kuzenko kehrte ins Wohnzimmer zurück, begleitet von einem kleinen Mann von fünfundvierzig bis fünfzig Jahren, der ein hässliches, aber imposant zu nennendes Gesicht hatte: eine hohe Stirn, einen höckerigen, kahlen Schädel, aufmerksame Augen hinter den dicken Brillengläsern und einen auffällig sinnlichen Mund mit dicken Lippen.
Soso, kombinierte Nicholas. Man konnte die Geschichte dieser Familie leicht erraten. Dieser Kuzenko war vor ein paar Jahren auf einmal reich geworden, hatte ein junges Flittchen geheiratet und die frühere Gefährtin seiner schweren Jahre, wie das bei Männern vor den Wechseljahren so üblich ist, in den Vorruhestand geschickt. Vor kurzem hatte er ihr auch die Tochter abgenommen, wofür er wohl eine Menge Geld hatte hinlegen müssen. Etwas Banaleres gibt es nicht.
Der Hinzugekommene streckte ihm seine Hand mit den – wie bei einem Bildhauer oder Pianisten – langen Fingern entgegen und sagte:
»Mirat Leninowitsch. Es freut mich, dass Sie Inga gefallen.«
»Sehr angenehm, Marat Leninowitsch«, sagte Fandorin, der meinte, er habe den Namen nicht richtig verstanden, als Antwort auf den Händedruck.
»Nicht › Marat ‹ , sondern › Mirat ‹ «, berichtigte der Hausherr. Die wunderbaren Lippen streifte ein sanftes, ironisches Lächeln. »Das ist eine Abkürzung von › mir-ny at-om ‹ , das heißt »friedliches Atom ‹ . Mein Vater arbeitete als Ingenieur, man war damals begeistert vom technischen Fortschritt.«
»Hast du zu Mittag gegessen?«, fragte Inga Sergejewna ihren Mann und entfernte eine Fluse von seinem Ärmel.
Er schüttelte den Kopf und beachtete den Gouverneur nicht mehr. Müde rieb er sich die Augenlider.
»Ich hatte keine Zeit dazu. Mach mir irgendein belegtes Brot, und dann fahr ich wieder. Ich muss unterwegs noch die Videodokumentation einer Patientin angucken.«
Seine Frau reichte ihm seufzend eine Plastikdose.
»Ich wusste es ja. Hier, mit Fleischwurst und Gurken, das magst du doch. Und wechsle das Hemd; das, was du anhast, ist nicht mehr frisch genug.«
Mirat Leninowitsch hatte wirklich großen Hunger. Er nahm das schöne kleine Sandwich aus der Dose, biss die Hälfte ab und ging zur Tür.
»Entschuldigen Sie«, erklärte er Fandorin zum Abschied, konzentriert mit dem Kiefer mahlend, »ich muss um eins operieren.«
Und er ging.
»Ich gebe dir ein Hemd!«, rief Inga Sergejewna und rannte hinter ihm her.
Die ganze Begegnung verunsicherte Nicholas zutiefst. Er hätte es lieber gehabt, wenn der Hausherr unsympathisch gewesen wäre, dann fiele es ihm wenigstens nicht so schwer, hinter ihm herzuspionieren. Aber Kuzenko gefiel dem Magister eher, und auch die Beziehungen zwischen den Bewohnern des Puppenhauses waren durchaus menschlich, nicht wie bei Barbie und Ken.
»Ist Ihr Mann Arzt?«, fragte Fandorin, als die Frau zurückkam. »Ich dachte, er ist ein Geschäftsmann.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, sagte Frau Kuzenko verwundert. »Mirat ist eine Koryphäe in der Schönheitschirurgie. Keiner kann es in unserem Land mit ihm aufnehmen, vielleicht sogar in der ganzen Welt. Er hat schon Ende der achtziger Jahre als einer der Ersten eine Privatklinik aufgemacht. Das Management kostet jetzt natürlich viel Zeit, aber er operiert nach wie vor selbst. Haben Sie denn nie von der Kuzenko-Methode gehört?«
»Doch, ich habe so etwas gelesen, über das Wunder der Verjüngung und von
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