Der Favorit der Zarin
Sittenlosigkeit.«
Schlusssatz des Puschkin-Fragments »Im Landhaus trafen die Gäste ein«
SECHZEHNTES KAPITEL
DER BRIGADIER
(Fonwisin, 1768)
»Dmitri, es ist unmoralisch, wenn du nicht dein Schweigen über die Gründe brichst, warum du aus Petersburg geflohen bist«, sagte Daniel streng, sobald die Schlittenkutsche auf dem Platz anfuhr.
Mitja kniete auf dem hinteren Sitz und schaute aus dem Fenster: auf den Oberleutnant aus Gatschina, der das Geld zählte, das er für den Degen bekommen hatte, und auf den finsteren Pikin. Letzterer hatte sich einen Mantel über das Hemd gezogen, stand einsam da und sog gierig an einer langen Pfeife. Er blickte nicht hinter der Kutsche her, sondern betrachtete die Erde unter seinen Füßen.
»Ich habe von dir keine Offenheit gefordert«, fuhr Vondorin in demselben resoluten Ton fort, »aber du musst doch zugeben, dass ich nach dem Vorgefallenen ein Recht habe, ein paar Fragen beantwortet zu bekommen. Erstens: Wer ist dieser Hauptmann Jeremej? Zweitens: Warum wurde für dich ein Finderlohn ausgesetzt und zwar einer, der nicht zu knapp ist? Drittens: Was hattest du allein, ohne deine Eltern, in Petersburg zu suchen? Viertens . . .«
Es waren insgesamt genau zwölf Fragen, die er eine nach der anderen vorbrachte, woran man sah, dass sie Daniel schon lange beschäftigten.
»Entschuldigt meine Geheimniskrämerei, mein verehrter Freund und Wohltäter«, antwortete Mithridates. »Der Grund war nicht, dass ich Euch nicht traute, ich wollte Euch nur nicht in diese etwas undurchsichtige, aber nicht ungefährliche Intrige hineinziehen.«
Und Mitja erzählte seinem Retter alles bis ins Kleinste, und er merkte gar nicht, dass er dabei genauso lange Bandwurmsätze wie der Waldphilosoph bildete.
Vondorin stellte hin und wieder klärende Fragen und schwieg am Ende lange; er musste das, was er gehört hatte, erst einmal auf sich wirken lassen.
»Die Geschichte, die du erzählst, ist so verworren und undurchsichtig«, sagte er schließlich, »dass ich mit deiner Erlaubnis ihr Wesen zu erfassen suche, und wenn ich zu falschen Schlussfolgerungen komme, dann verbessere du mich bitte. Also. Die russische Thronfolge ist schon seit Peter dem Großen nicht klar geregelt. Der Kaiser kann nach eigenem Gutdünken einen Nachfolger bestimmen, ohne sich nach dem Altersprinzip zu richten. Die Ironie des Schicksals wollte es bekanntlich, dass Peter seinen Nachfolger nicht benennen konnte – er gab seinen Geist auf, bevor er den Namen über die Lippen brachte. Seitdem befördert nicht das Recht die Monarchen auf den Thron, sondern die Gewalt. Sowohl Katharina I. als auch Peter II., Anna, der kleine Iwan, Elisabeth, Peter III. und Katharina II. kamen nicht legal, sondern durch einen Willkürakt auf den Thron. Da ist es nicht verwunderlich, dass in der Umgebung des Favoriten der Plan entstand, die natürliche Thronfolge zu durchbrechen und nicht den Sohn, einen ziemlichen Dickkopf und Streithahn, zum Nachfolger der Kaiserin zu ernennen, sondern den Enkel, den dessen Vertraute aufgrund seiner Jugend und Sanftheit um den Finger würden wickeln können. Vermutlich ist die Thronfolge schon in diesem Sinn durch ein Testament geregelt, aber die vorsichtige Katharina hält das noch geheim; sie will offenbar einen günstigen Augenblick abpassen. Doch wie es so richtig heißt: Tote reden nicht. Wenn Katharina es nicht zu Lebzeiten schafft, ihrem Enkel das Szepter zu übergeben, dann zieht, sobald sie ihre Augen für immer schließt, ihr Sohn Pawel mit seinem gepuderten Heer in die Hauptstadt ein und bemächtigt sich des Thrones mit Gewalt. Dann wird es allen seinen Verfolgern und Beleidigern schlecht ergehen, vor allem dem Favoriten und seiner Clique. Dein Freund Jeremej Metastasio ist klug und versteht sehr wohl, dass die Zeit drängt. Und nun hat der kurzsichtige Platon sich auch noch Hals über Kopf verliebt und droht, sich selber den Ast abzusägen, auf dem er sitzt. Es kann sich nur um Tage handeln, bis Surows Feind Maslow eindeutige Beweise für die Untreue des Favoriten vorlegt und mit dero Erlaucht Schluss ist. Das ist auch der Grund, weshalb der Italiener das Erdenleben der Kaiserin verkürzen will. Sie muss möglichst schnell sterben, solange Surow noch an der Macht ist, aber sie darf nicht plötzlich, sondern erst im Anschluss an eine Krankheit sterben, damit die Zeit reicht, um den Enkel als Thronfolger einzusetzen. Das ist der Grund, warum er das schleichend wirkende Gift braucht. Verstehe ich die
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