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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Leninowitschs Gesicht. Statt spöttisch und müde wurde es konzentriert und angespannt. Aber nur für einen winzigen Augenblick. Dann setzte der Chirurg wieder sein strahlendes, breites Lächeln auf, sah durch Fandorin hindurch und rief aus:
    »Jasti! Schon wieder zu spät! Ich trage dich ins Klassenbuch ein, sag deinen Eltern, sie sollen zur Schule kommen!«
    Ein seriöser, schlanker Herr mit graumeliertem, sorgfältig gekämmtem Haar stieg die Treppe hoch. Der ein wenig spät eingetroffene Gast sah in dem Smoking aus, als sei er darin auf die Welt gekommen, habe sich nur von Zeit zu Zeit gehäutet und dann wieder ein neues, ebenso elegantes Fell bekommen.
    Der gut aussehende Mann klopfte dem Gastgeber jovial auf die Schulter, woraufhin die beiden ein seltsames Ritual vollführten: statt sich die Hand zu geben, ließen sie ihre beiden rechten Handflächen aneinander klatschen und schlugen sie dann gegen die Stirn ihres Gegenübers.
    »Salut, Kuzyj. Wie sagt man doch so schön: Seien Sie gegrüßt, lange nicht gesehen!«
    »Na, das stimmt allerdings! Inga hat schon gefragt, was macht ihr eigentlich die ganzen Nächte durch, du und Jasti? Man könnte glatt denken, ihr seid vom anderen Ufer«, erzählte Mirat Leninowitsch lachend. »Aber heute machen wir Pause, ja? Ich zeige dir nur ein einziges Papier, das ist alles. Gehen wir in mein Arbeitszimmer?«
    »Hmhm«, murmelte Jasti, der Nicholas fragend anschaute.
    »Fandorin, Gouverneur von Mirat Leninowitschs Tochter«, stellte dieser sich vor, streckte aber die Hand nicht als Erster aus, denn ein Gouverneur ist ein Untergeordneter und sollte Zurückhaltung üben.
    Richtig! Der Gast war nicht geneigt, jemand vom Dienstpersonal die Hand zu schütteln – er streifte Nicholas nur mit einem Blick von Kopf bis Fuß und wiederholte noch einmal mit einer anderen Intonation:
    »Hmhm.«
    Der höfliche Kuzenko stellte seinen Bekannten vor:
    »Das ist Oleg Stanislawowitsch Jastykow, wir sind in dieselbe Schule gegangen und waren Klassenkameraden. Jetzt ist er mein Hauptkonkurrent, ihm gehören die Apotheken der › Doktor Wehwehchen«-Kette. Die kennen Sie bestimmt.«
    Jastykow, einer aus der Liste der Verurteilten!
    Fandorin bemühte sich, seine Aufregung zu überspielen, und fragte:
    »Was kann es denn für Konkurrenz zwischen einer Schönheitsklinik und einer Apotheke geben? Die arbeiten doch zusammen.«
    »Siehst du, das sage ich doch auch, Kuzyj«, entgegnete Jastykow lachend. »Du würdest besser mit mir Zusammenarbeiten, statt gegen mich zu kämpfen. Pass auf, ich mach dich platt, wie in der fünften Klasse.«
    Mirat Leninowitschs Gesicht verzog sich für einen Moment zu einer seltsamen Grimasse, aber vielleicht kam das Nicholas auch nur so vor – Kuzenko stieß seinem Klassenkameraden aufmunternd den Ellenbogen in die Seite.
    »Du bist solo? Da lerne ich also nicht den konkurrenzlosen Schrecken der Serails und Bordelle kennen?«
    »Wieso solo? Ich bin mit Dame gekommen. Ich stelle sie dir gleich vor: ein tolles Weib.«
    »Und wo ist dein tolles Weib?«
    Jastykow sah sich um.
    »Deine Frau hat sie unten abgefangen, um ihr das Wohnzimmer zu zeigen. Inga sieht wirklich blendend aus! Du Glückspilz!«
    Und wieder zuckte das Gesicht des Hausherrn – man konnte es diesmal nicht übersehen.
    Mirat Leninowitsch lächelte Jastykow schief an und bat Fandorin:
    »Nikolaj Alexandrowitsch, wenn Sie mir bitte einen Gefallen tun wollen. Gehen Sie nach unten und sagen Sie meiner Frau, dass ich mit Oleg Stanislawowitsch nach oben ins Arbeitszimmer gehe. Wenn die Geburtstagstorte aufgetragen wird, kommen wir bestimmt runter.«
    Nicholas unterdrückte den Drang, sich tief zu verbeugen und »Jawohl, dero Erlaucht« zu flüstern, und ging ins Erdgeschoss. Wenn du zum Dienstpersonal gehörst, dann sei so gut, mäßige deinen Stolz und übe Zurückhaltung.
    Inga und die Begleiterin des unsympathischen Jastykow waren im Wohnzimmer – sie standen vor dem Porträt des persönlichen Adeligen Konjuchow.
    Die Frau, eine große Brünette in rotem Kleid mit einem tiefen Ausschnitt im braun gebrannten Rücken, drehte sich um.
    Nicki wankte und hielt sich am Türrahmen fest.
    Es war Jeanne!
    Zeit und Raum wechselten das Register und gingen in eine andere Dimension über, so dass Inga Sergejewnas gelassene, gleichmäßige Stimme klang, als käme sie aus einer anderen Welt, aus dem vorletzten Jahrhundert:
    »Bemerken Sie, Nichtachtung gegenüber den Vorfahren ist das erste Anzeichen der Verwilderung und

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