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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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berühren, bevor er nicht die ganze Weisheit der biologischen und optischen Wissenschaft begriffen hat. In deinem Alter braucht man anderes Spielzeug und andere Beschäftigungen. Hast du schon einmal an einer Drehmaschine gearbeitet? Nein? Und kannst du mit einer Hobelbank umgehen? Zeig mal deine Hände.« Er nahm Mitjas Hände in seine und schnalzte mit der Zunge. »Ein Junker, das sieht man gleich, ja, ein Junker! So seid ihr also, ihr Gold- und Rosenkreuzer, ihr könnt nur reden und weinen, aber nicht arbeiten. Du, Daniel, hast deine Leibeigenen bestimmt ziehen lassen, du hast ihnen die Freiheit geschenkt, oder?«
    »Ja.«
    »Ich wette, die Hälfte ist vor Freude dem Alkohol verfallen. Es ist zu früh, um unseren Bauern die Freiheit zu geben; viel Freiheit, das ist wie eine hohe Dosis von einem starken Medikament. Da kann man sich vergiften. Man muss das langsam anlaufen lassen und richtig dosieren. Ich gebe meinen Leibeigenen die Freiheit nicht und stelle sie ihnen auch nicht in Aussicht. Was soll der Mensch mit der Freiheit, wenn er damit nicht umgehen kann? Manchmal muss man diese Leute auch auspeitschen wie ein Vater. Aber ich helfe jedem, der sich selbständig machen will, das in Angriff zu nehmen. Hast du gehört, was eine einzelne Seele dem russischen Grundbesitzer einbringt? Nein? Ich habe mich erkundigt. Im Durchschnitt sieben Rubel pro Jahr, egal ob in Naturalien oder in Geld. Ich dagegen habe von jedem Arbeiter im Durchschnitt fünfundvierzig Rubel. Na, was sagst du dazu?«
    »Kaum zu glauben!«, rief Vondorin aus.
    »Eben. Und hinzu kommen noch die Einkünfte aus den Mühlen, Farmen, Werkstätten, Leinenmanufakturen und den Gestüten. Erlaube einem abhängigen Menschen zuerst einmal zu leben: richte ihm ein Haus ein, bring ihm ein Handwerk bei, lass ihn sein eigener Herr sein, dann hast du auch ein Recht, etwas von ihm zu bekommen. Ein verheirateter Bauer zahlt mir in den ersten drei Jahren überhaupt nichts, im Gegenteil, er bekommt etwas von mir für die Anschaffungen. Später zahlt er dann dafür das Hundertfache zurück.«
    Daniel bemerkte:
    »Das ist natürlich eine hervorragende Einrichtung von dir. Nur: Wie soll man einem Menschen beibringen, was Würde ist, wenn man ihn jederzeit auspeitschen kann?«
    »Doch nicht jederzeit, nicht willkürlich, sondern nach einem festgelegten System, wegen ganz bestimmter Übertretungen!«, widersprach Ljubawin heftig. »Das geschieht zu ihrem Besten!«
    »Mir geht es so: Je länger ich auf der Welt bin, desto mehr neige ich zu der Überzeugung, dass man dem Menschen, wenn er gesund ist, am besten die Möglichkeit gibt, sich selber um sein Wohl zu kümmern. Sonst kommt dabei dasselbe raus wie bei dem Thronfolger in Gatschina. Hast du davon gehört? Er setzt sich ebenfalls für seine Bauern ein, aber sie müssen bei ihm in gestreiften Strümpfen herumlaufen, Schlafmützen aufsetzen und womöglich sogar ihr Haar pudern.«
    »Nun, mit den Strümpfen, das ist natürlich zu viel des Guten«, sagte Miron Antiochowitsch lachend, »aber ich setze große Hoffnungen in den Zarensohn. Er weiß, was Ungerechtigkeit ist, und das ist eine große Kunst für einen Herrscher. Schon seit einem Vierteljahrhundert lässt man ihn nicht auf den Thron, der ihm von Rechts wegen zusteht. Und wie der von dir einst so geliebte Prinz von Dänemark ist er gezwungen, ohnmächtig den Ausschweifungen einer verbrecherischen und lasterhaften Mutter zuzusehen. Und dabei ist diese neue Jezebel ja sehr viel schlimmer als die Gertrude von Shakespeare. Jene hat nur die Sünde der Blutschande auf sich geladen, während diese zwei rechtmäßige Herrscher, Peter und Iwan, umgebracht hat, und den Dritten nicht an die Krone lässt!«
    Ljubawin bemerkte auf einmal die Kinder und brach ab.
    »Gut, reden wir später darüber. Den beneidenswerten Bewohnern des kommenden neunzehnten Jahrhunderts knurrt schon der Magen. Jetzt gibt es erst mal was zu essen!«
    Nach dem Mittagessen, einem sättigenden und leckeren, aber sehr einfachen Mahl, hielt der Hausherr es doch nicht mehr aus und führte die Gäste in den Kuhstall, um ihnen seine revolutionäre Erfindung vorzuführen. Es handelte sich dabei um einen hochkomplizierten Mechanismus, der dazu diente, das Vieh sauber zu halten. Ljubawins dicke, faule Kühe kamen überhaupt nicht auf die Weide, sondern verbrachten ihr ganzes Leben in den engen Holzzellen des Stalls. Sie aßen, schliefen, gaben Milch und wurden vom Stier gedeckt, ohne sich vom Fleck zu rühren.

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