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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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her reiten. Die Pferde stammen von meinem eigenen Gestüt, sie sind störrisch. Wenn der Teufel will, fällt der Kleine noch runter und bricht sich das Genick. Geh nur du mit Thomas hin. Ich langweile mich weniger, krank zu sein, wenn dein Sohn mir Gesellschaft leistet, und dass Samson sich nicht langweilt, dafür werde ich schon sorgen. Wolltest du nicht einen Blick ins Mikroskop werfen?«
    »Darf ich das wirklich?«, fragte Mithridates, dem vor Glück die Luft wegblieb. »Dann bleibe ich hier!«
    ***
    Eine halbe Stunde später standen er und der Hausherr in der Bibliothek am Fenster und sahen zu, wie zwei Reiter sich im Trab über die Allee entfernten, der eine größer, der andere kleiner.
    Sie waren schon hinter der letzten Laterne verschwunden, und Miron Antiochowitsch schwieg immer noch wie erstarrt.
    Mithridates hielt mühsam seine Ungeduld zurück. Schließlich war er es leid und fragte:
    »Wollen wir uns nicht endlich einen Wassertropfen anschauen?«
    Da drehte sich Ljubawin langsam um und musterte den Jungen vom Scheitel bis zur Sohle, genauso wie im Bad.
    Im ersten Moment dachte Mitja, Miron Antiochowitsch habe wieder einen Herzanfall, und bekam einen Schreck. Aber der Blick war sehr viel länger, und seine Bedeutung war klar. Der Herrscher von Sonnenstadt betrachtete den kleinen Gast mit offenem Ekel und Entsetzen, als handele es sich bei ihm um ein schleimiges, giftiges Insekt. Und da bekam Mitja einen noch größeren Schreck. Vor Überraschung wich er zurück, aber Ljubawin tat drei schnelle Schritte auf ihn zu und packte ihn bei der Schulter. Er fragte ihn mit einem spöttischen Lächeln:
    »Du bist Daniels Sohn?«
    »Jjja, bbbin ich . . .«, stammelte Mitja.
    »Umso schlechter für Daniel«, murmelte Antiochowitsch. »Er dachte, ich habe nicht gehört, dass du weggelaufen bist. Ich wollte nicht davon sprechen, um ihn nicht aufzuregen . . . Dann ist das wohl auf dieser Flucht mit dir passiert. Ja?«
    »Was meint Ihr denn mit › das ‹ ?«, schrie Mithridates auf, denn die Finger des Hausherrn bohrten sich schmerzhaft in seine Schulter. »Onkel Miron Antiochowitsch, Ihr seid kra. . .«
    Da hielt ihm Ljubawin mit der anderen Hand den Mund zu, beugte sich über ihn und flüsterte, häufig mit den Augen blinzelnd:
    »Tsss! Kein Wort! Dir darf man nicht zuhören! Wer du früher warst, spielt keine Rolle. Wichtig ist, wer du jetzt bist.«
    Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auf der Schweißtropfen hervortraten. Mitja nutzte den kurzen Augenblick der Redefreiheit und sprach schnell mit zitternder Stimme, wobei er sich bemühte, trotzdem nicht die Würde zu verlieren:
    »Verehrter Herr! Ich verstehe nicht, was Ihr sagen wollt. Wenn meine Anwesenheit Euch unangenehm ist, dann gehe ich sofort, warte also nur auf die Rückkehr von Daniel Ilarionowitsch.«
    »Und redet ganz anders, als Kinder es tun.« Miron Antiochowitsch zerrte gereizt an seinem Hemdkragen. »Der eigene Vater, und da nennt er ihn mit Namen und Vatersnamen . . . Kein Zweifel! Ein schweres Schicksal, aber ich muss es, ohne zu murren, auf mich nehmen.«
    Er kniff einen Augenblick lang die Augen zusammen, und als er sie wieder öffnete, funkelte in ihnen eine solch rasende Entschlossenheit, dass Mitja nicht mehr nach Würde zumute war, sondern er nur lauthals brüllte:
    »Hilfe! Hilft denn keiner? Hi. . .«
    Eine kräftige Faust prallte gegen seine Schläfe. Sein Schrei riss ab.
    Als er wieder zu sich kam, hatte Mithridates keine Ahnung, wo er sich befand, warum vor seinen Augen alles weiß war und er so fror. Er wollte sich in eine bequemere Position bringen, schaffte das aber nicht, und erst da verstand er, dass ihn jemand auf seine Schulter geworfen hatte und irgendwohin trug. Er hörte, wie der Schnee unter den schnellen Schritten knirschte und jemand stockend atmete, und sein Verstand erklärte ihm, was vor sich ging: Offensichtlich schleppte der verrückt gewordene Ljubawin sein kleines Opfer durch den Park.
    Wohin? Wieso?
    Was haben diese kleinen Menschen, die man Kinder nennt, für ein merkwürdiges Leben? Warum kann dich jeder, der älter und kräftiger ist, schlagen, beschimpfen, dich auf die Schulter nehmen und wegtragen wie einen toten Gegenstand?
    Die Atemzüge von Mitjas Widersacher wurden immer schneller und lauter, während seine Schritte sich verlangsamten. Schließlich hielt er an, warf seine Bürde in den Schnee, hockte sich drohend hin und drückte sein Knie gegen den wehrlosen Mitja.
    »Wohin wollt Ihr mich denn

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