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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Fandorin zerstreut, während er ihre glatte Haut musterte, die in einem gewissen Widerspruch zu ihren Augen stand, die von der Zeit fahl geworden waren.
    Aber ihn interessierte nicht die Frau, sondern der Greis. Durch das mit Altersflecken übersäte Gesicht des Neunzigjährigen zeichnete sich deutlich die Totenmaske ab. Die Sanduhr dieses Methusalems ließ die letzten Körner durchsickern. In wenigen Monaten oder sogar Wochen würde sein altersschwaches Herz stehen bleiben. Und doch wird er mich überleben, dachte Nicholas und zuckte zusammen. Dass Jeanne den gefährlichen Zeugen laufen lassen würde, das glaubte er auf keinen Fall.
    Aber es ging gar nicht um sein eigenes Leben, damit war alles klar. Die Hauptsache war, dass sie Altyn und die Kinder nicht antasteten. Was wollte Jeanne von ihnen?
    War das nicht der Grund, warum du kämpfen wolltest, als du dich danach drängtest, das Schafott zu besteigen?, fragte sich Fandorin. Sei froh, dass du dein Ziel erreicht hast. Deine kleine Welt wird intakt bleiben, auch wenn du nicht mehr da bist.
    Nicholas ging in sein Zimmer. Er tigerte in seinen vier Wänden auf und ab und dachte nicht an seinen bevorstehenden Tod, das beschäftigte ihn im Moment aus irgendeinem Grund überhaupt nicht. Er zerbrach sich den Kopf aus einem anderen Grund – und der war scholastisch, um nicht zu sagen, vom Standpunkt des einundzwanzigsten Jahrhunderts: absurd.
    Was ist schrecklicher: die zu retten, die du liebst, und die eigene Seele zugrunde zu richten, oder die eigene Seele zu retten und Frau und Kinder dem Tod auszuliefern? Letztendlich lief der Streit zwischen der großen und der kleinen Welt auf diesen Punkt hinaus.
    Im Hof heulten ständig die Motoren auf – die Gäste brachen auf, während der Magister von einer Ecke in die andere tigerte und sich die Haare raufte.
    Da hab ich aber eine tolle Idee gehabt, um meine Seele zu retten, sagte er sich auf einmal und blieb stehen. Der Preis ist der Tod von Altyn, Gelja und Erast.
    Merkwürdig, er hatte das Dilemma bisher überhaupt noch nicht von dieser Warte betrachtet.
    Dann brauchte er sich doch gar nicht den Kopf zu zerbrechen.
    Lass uns also bis halb sechs warten und etwas tun, was keine aufrechte Seele verkraften kann; schließlich müssen wir uns danach ja nicht lange quälen, weil man uns nicht lange die Gelegenheit dazu geben wird.
    Einmal aufgekommen, verließ ihn der aufgesetzte Schneid nicht mehr. Nicholas schaute aus dem Fenster und sah, dass im Hof nur noch die Autos der Gastgeber und die Jeeps des Sicherheitspersonals standen. Da hatte er eine Idee, die in ihrer Einfachheit genial war.
    Ob er sich nicht voll laufen lassen sollte?
    Natürlich nicht so, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, sondern nur leicht, in Maßen, nur zur Anästhesie.
    Die Idee war hervorragend, echt ober-hyper-supergeil. Ach, Valja, Valja, wo bist du nur?
    Fandorin ging in den ersten Stock hoch, wo das Dienstmädchen damit beschäftigt war, die Spuren der Party zu beseitigen. Er schenkte sich ein randvolles Glas Cognac ein, trank es aus und beschloss, gleich die ganze Flasche mitzunehmen.
    Ein paar Schlücke noch, mehr nicht. Sonst verwechselst du noch – Gott behüte – die Knöpfe. Dann geht alles den Bach runter: Du riskierst deine Seele und rettest die Familie doch nicht.
    Er trat aus dem Wohnzimmer in den Flur und schaute auf die Wanduhr. Drei Minuten vor zwei. Um Gottes willen, wie lange er noch warten musste.
    Er wollte sich zum Fenster wenden, um nur die Schwärze der Nacht vor sich zu haben, nahm aber auf einmal aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.
    Er drehte sich um und erstarrte.
    Auf der Ottomane zwischen zwei Palmen lag Miranda und schlief.
    Sie hatte die Beine angezogen, den Kopf auf die Lehne gelegt, das helle Haar hing bis zum Boden herab. Offenbar hatte sich das erschöpfte Geburtstagskind hingesetzt, um sich nach dem Weggang der Gäste ein wenig zu erholen, und war, ohne es zu merken, eingeschlummert.
    Das Gesicht eines jeden schlafenden Menschen hat etwas Schutzloses, Kindliches. Mira aber erschien Nicholas geradezu wie der Gipfel der Sanftmut: Die Lippen, die den Anflug eines Lächelns hatten, waren ein wenig geöffnet, die feinen Wimpern zitterten leicht, auch der kleine Finger ihres angewinkelten Arms zitterte.
    Fandorin betrachtete das Mädchen nur kurz und wandte sich dann ab, denn einen Schlafenden zu beobachten, ist ein Einbruch in die Privatsphäre; aber diese paar Sekunden genügten, damit ihm klar

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