Der Favorit der Zarin
einen verantwortungsvollen Menschen. Das heißt, ich trage die Verantwortung für jeden Einzelnen, der mir nahe steht. Und zwar voll und ganz, mit allem, was ich habe. Sie können nun davon ausgehen, dass auch Sie zu diesem Kreis gehören, Nikolaj Alexandrowitsch. Schluss, genug davon.« Er hob die Hand, als er sah, wie aufgeregt die Lippen seines Gesprächspartners zuckten. »Kommen Sie, ich führe Sie erst mal in den Hintergrund des Problems ein; dann können wir später auch besser konkrete Lösungen ins Auge fassen. Nehmen Sie doch Platz.«
Sie setzten sich in zwei Sessel, die sich gegenüberstanden.
»Jastykow und ich, wir sollen also beide von irgendwelchen halbverrückten › Rächern ‹ zum Tode verurteilt worden sein? Meine Assistenten haben bestimmt den Zettel mit diesem schwachsinnigen Urteil weggeworfen, weil sie das nicht ernst genommen haben. Ich bekomme ziemlich oft Post von Verrückten. Ich werde das klären. Wann war das noch mal genau?«
»Einen Augenblick. Ich habe mir den Wortlaut des Zettels hier in mein Notizbuch geschrieben. Hier: Direktor der Aktiengesellschaft › Meeresfee Melusine«, das Urteil erging am 6. Juli und wurde am selben Tag zugestellt.«
»So, so.« Mirat Leninowitsch holte ebenfalls sein ledernes Notizbuch mit Goldschnitt heraus und machte einen Vermerk. »Doch, der logische Zusammenhang ist klar. Im Unterschied zu mir hat Jasti das Urteil ernst genommen und seiner Jeanne aufgetragen, die Sache zu klären. Was meinen Sie, wie stehen die beiden zueinander? Haben sie ein Verhältnis, oder ist er der Auftraggeber, und sie führt seinen Auftrag aus?«
»Das eine hindert doch das andere nicht, oder?«
»Doch, bei ernst zu nehmenden Leuten schon. Und nach dem, was Sie so erzählen, ist Jeanne Bogomolowa, oder wie sie in Wirklichkeit heißt, ein Profi der Extraklasse.«
»Dann handelt es sich bei den beiden also um Auftraggeber und Ausführende. Sie hat ihn ihren › Kunden ‹ genannt.«
»Gut. Jeanne hat also diesen merkwürdigen Besucher, der bei Ihnen war, identifiziert, diesen, wie hieß er noch . . .«
»Schibjakin.«
»Ja, Schibjakin. Über ihn ist sie dann auf Sie gekommen und hat gemeint, Sie gehörten ebenfalls zu den › Rächern ‹ . Und ihr Verdacht wurde durch Sie auch noch erhärtet, zum einen, weil Sie Schibjakins Identität so schnell herausgekriegt haben, und dann dadurch, dass Sie das Fax mit der Warnung in das Büro von › Doktor Wehwehchen ‹ geschickt haben. Sie sagen, Sie haben es mir ebenfalls geschickt? Mir persönlich ist es jedenfalls nicht unter die Augen gekommen – ich war damals in Deutschland, die Sekretärin hat wohl auch das auf die leichte Schulter genommen. Aber zurück zu Jeanne. Sie musste, koste es, was es wolle, herausfinden, wes Geistes Kind Sie sind. Und als sie das herausgefunden hatte, wollte sie Sie auch beschäftigen . . .« Bei diesen Worten lächelte Mirat Leninowitsch bitter und fuhr fort: »Mit dem neuralgischen Punkt hat sie ins Schwarze getroffen, das muss man ihrer Professionalität schon lassen. Wenn man nach so vielen Jahren seine Tochter wiederfindet . . . Nur, um sie wieder . . .« Er unterbrach sich, weil er husten musste, damit ihm die Stimme nicht wegblieb, und kam gefasst zum Ende: »Natürlich würde ich auf › Iljitsch ‹ verzichten, um Miranda zu retten. Das ist doch klar.«
»Auf wen bitte?«, fragte Nicholas und klapperte erstaunt mit den Augendeckeln. »Auf was für einen Iljitsch denn? Doch nicht etwa auf Lenin?«
»Nein, Wladimir Iljitsch Lenin hat nichts damit zu tun«, sagte Kuzenko schmunzelnd. »Und die Ideologie auch nicht. Iljitsch, das ist die Abkürzung für das Iljitschowsker Chemiekombinat. Haben Sie davon gehört? Nein? Das kann doch nicht sein, es handelt sich dabei um den letzten Giganten der sowjetischen Pharmaindustrie, der noch nicht privatisiert ist. Da werden Schlafmittel und ein paar Psychopharmaka hergestellt, und deshalb forderte es das Gesetz, dass die Produktion in staatlichen Händen bleibt. Aber diese Einschränkung wurde vor kurzem aufgehoben; die Arzneimittel, die Iljitsch produziert, wurden aus der Gruppe der stark wirksamen Präparate herausgenommen. Das Kontrollpaket wurde zum Kauf angeboten. Es gab ein halbes Dutzend Interessenten, aber nur zwei davon waren seriös: Jasti und ich. Das steckt hinter diesem ganzen Thriller mit Kidnapping.«
»Die »Unfassbaren Rächer ‹ spielen also überhaupt keine Rolle?«, fragte Fandorin und blätterte fassungslos in seinem
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