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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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wurde: Nein, er würde es nie und um nichts in der Welt über sich bringen, den Auftrag auszuführen; er würde nicht den dritten Knopf von links in der unteren Reihe betätigen. Da brauchte er nicht zu räsonieren, da brauchte er sich nicht zu quälen und nachzudenken. Er würde es einfach nicht tun und basta! Und erst später, wenn diese Zeit überhaupt käme, würde er das vielleicht so erklären, dass die erste und wichtigste Pflicht des Menschen seine eigene Seele ist, die – das kann man drehen, wie man will – nicht der kleinen, sondern der großen Welt angehört.
    Er kippte den Cognac herunter, krächzte wenig kultiviert, und etwas lauter als nötig auftretend, begab er sich in den Gebäudeteil des Hausherrn, zu Mirat Leninowitsch, der noch nicht weggefahren war. Um mit ihm zu reden wie ein Vater mit einem Vater.
    Herr Kuzenko saß in seinem Arbeitszimmer und wartete, bis seine Gattin mit dem Umziehen fertig war. Er hatte den Smoking schon ausgezogen und war in Cordhose und Pulli. Zwar wunderte er sich darüber, dass der Gouverneur kam, aber nicht besonders stark. Überhaupt sah es nicht so aus, als ob ihn irgendetwas aus der Fassung bringen könnte.
    »Wie, Sie schlafen noch nicht, Nikolaj Alexandrowitsch?«, fragte er. »Ich möchte Ihnen danken. Das Benehmen von Mira war einfach tadellos. Alle sind begeistert von ihr. Und was die Hauptsache ist: Sie hat Vertrauen in ihre Möglichkeiten geschöpft. Ich weiß, wie schwer es ihr gefallen sein muss, aber sie hat Format und geht Schwierigkeiten nicht aus dem Weg.«
    So war das also? Dieses Genie war also ein aufmerksamer Beobachter, der die Party ganz bewusst zur Übung eingesetzt hatte.
    Der Blick des Wunderdoktors fiel nach unten, seine Brauen hoben sich ein wenig. Nicholas wurde auf einmal siedend heiß klar, dass er noch immer die Flasche in der Hand hielt.
    »Denken Sie nicht, ich bin besoffen«, sagte er zögernd und wusste nicht weiter.
    Kuzenko drängte ihn nicht. Er hatte ein Schachbrett vor sich stehen – das war so seine Art, sich die Zeit zu vertreiben; er dachte sich eine Schachpartie aus oder löste eine schwierige Schachaufgabe. Na klar, das natürlichste Hobby der Welt für einen introvertierten Menschen mit überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten.
    »Fahren Sie nicht weg«, sagte Fandorin, der seine Aufregung endlich in den Griff bekommen hatte. »Sie dürfen nicht wegfahren. Mira . . . Miranda ist in Gefahr. Ich . . . ich muss Ihnen etwas erzählen. Unterbrechen Sie mich bitte nicht, ja, geht das?«
    Mirat Leninowitsch unterbrach ihn nicht ein einziges Mal, obwohl Nicholas unzusammenhängend und verworren redete und mehrfach auf ein und dasselbe zu sprechen kam. Kuzenko sah ihm nur am Anfang ins Gesicht, dann aber starrte er, als hätte er jegliches Interesse an ihm verloren, nur das Brett mit den Schachfiguren an. Sogar als die Beichte zu Ende war, ließ sich der Doktor nicht anmerken, dass ihn das Gehörte erschütterte. Er saß noch genauso reglos da, ohne die Augen vom Schachbrett abzuwenden.
    Fandorin war überzeugt davon, dass er zur Salzsäule erstarrt war und unter Schock stand. Aber anderthalb Minuten später nahm Mirat Leninowitsch auf einmal das Pferd, machte einen Zug und sagte:
    »Und das ist unsere Antwort.«
    »Wie bitte?«, fragte Nicholas.
    »Gardez mit dem Pferd, Schach der Dame«, erklärte Kuzenko. »Die Weißen sind gezwungen, das Pferd zu schlagen, dann hat mein Turm freies Spiel.«
    Der Magister schaute den eisernen Mann an und wusste nicht, was er von ihm halten sollte. Der aber fegte plötzlich mit einem Ruck die Schachfiguren vom Brett, sprang auf und ging ans Fenster.
    Er war also doch nicht aus Eisen.
    Mirat Leninowitsch blieb ein paar Minuten in derselben Haltung stehen, die Hände auf dem Rücken zu Fäusten geballt. Nicholas sah, wie sich die langen Finger des Chirurgen zusammenzogen und lösten. Er schwieg, denn er wollte ihn nicht beim Nachdenken über diese schwierige Situation stören.
    »Also Folgendes«, sagte Kuzenko in absolut ruhigem Ton und drehte sich um. »Erstens. Ich weiß Ihre Offenheit sehr zu schätzen. Mir ist klar, was es Sie gekostet haben muss, zu mir zu kommen. Ich will nur eins sagen: Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen. Von diesem Augenblick an nehme ich Sie unter meine Fittiche. Und überhaupt . . .« Er hustete verlegen – er war es offenbar nicht gewohnt, über seine Gefühle zu reden. »Ich erweitere ungern den Kreis meiner Vertrauten, denn ich halte mich für

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