Der Favorit der Zarin
Engel, der im Fernsehen und auf den Seiten der Regenbogenpresse gut ankam. Dann übernahm er gewissenhaft die Rolle des glücklichen Vaters. Eine todsichere Nummer, traumhaft, einfach wie geschaffen für die Massenmedien. Aschenbrödel, die gute Fee, »Reiche weinen auch«, da konnte ja nichts schief gehen. Sicher hatten er und Igor auch schon eine ganze Kampagne vorbereitet zum Thema Kidnapping und Ermordung des armen Waisenkindes.
Er kannte die Schwächen seines Opponenten und hatte ihm eine Falle gestellt, an der dieser nicht würde Vorbeigehen können. Seine geliebte Gattin hatte er vorsichtshalber versichert – er hatte sich scheinbar ein »Küken« zugelegt, um vorzutäuschen, seine Liebe zu ihr sei erkaltet.
Das war kein Mensch mehr, sondern ein Schachcomputer.
»Fühlen Sie sich nicht gut?«, fragte Inga, die ihn erschreckt anstarrte. »Ihr Gesicht sieht so merkwürdig aus.«
Nein, Frau Kuzenko, Ihr Gesicht, das sieht merkwürdig aus, dachte Fandorin. Das frühere, auf dem Klassenfoto, war zwar nicht so schön, aber entschieden besser als diese leblose Puppe.
Und in dieser Sekunde hatte der Magister der Geschichte die dritte Erleuchtung, die unheimlichste von allen.
Als er aus dem Tor des Guts trat, legte er schweigend den billigen Koffer mit den Aufklebern in den Gepäckraum des Taxis.
Im Auto war Musik zu hören. Mira saß geduckt in der Ecke und schaute gespannt auf Nicholas.
»Haben Sie einfach die Sachen abgegeben und sonst nichts?«, fragte sie mit Angst in der Stimme.
»Wir können losfahren«, wies er den Fahrer an und wandte sich ab, weil er nicht den Mut hatte, ihr ins Gesicht zu sehen. ». . . Nur Inga war zu Hause. Sie hat sie mir ausgehändigt und noch nicht einmal gefragt, wofür ich deine Sachen brauche. Sie hat gesagt, ihr Anblick werde Mirat schwer fallen . . . Sie denkt, sie haben dich umgebracht.«
»Auf dem Teppich kommen wir geflogen, streifen den Regenbogen, da seid ihr blinde Schleichen im Vergleich!«, schallte es aus dem Radio. Gut, dass es laut war. Es musste ja nicht unbedingt sein, dass der Fahrer ihr Gespräch mithörte.
»Und . . . er? Wo ist er?«
»Zum Chemiekombinat gefahren«, antwortete Fandorin und hustete.
Es trat Schweigen ein. Fünf Minuten später sagte Miranda in unnatürlich ruhigem Ton, als wolle sie sich die Bedingungen einer Aufgabe klarmachen:
»Okay. Zuerst hatte ich niemand. Dann hat sich auf einmal ein Vater gefunden. Jetzt zeigt sich: Mein Vater ist ein gerissener Schuft, der keine Skrupel hat, seine Tochter gegen ein bescheuertes Chemiekombinat einzutauschen.«
» › Bescheuertes ‹ sagt man nicht, das ist noch schlimmer als ein richtiges Schimpfwort«, sagte Nicholas, dem noch nicht klar war, ob er dem Mädchen die Wahrheit sagen sollte.
Er sah sich vorsichtig nach ihr um. Ihre trockenen Augen waren gerötet. Doch, er musste es ihr sagen.
»Sicher, er ist ein Schuft, aber so weit, dass er die eigene Tochter gegen ein Aktienpaket eingetauscht hätte, ist er doch nicht gegangen. Kuzenko ist nicht dein Vater.«
»Sondern?«, fragte sie in demselben gleichgültigen Ton nach.
»Er ist. . . ein Schachspieler, nichts anderes.«
Fandorin rückte dichter an seinen Zögling heran und erklärte dem Mädchen den Sinn des Gambits, das Mirat Leninowitsch ausgeklügelt hatte und in dem Mira nur die Rolle des Bauernopfers gespielt hatte.
Merkwürdig, aber die unheilvolle Erzählung hatte eine belebende Wirkung auf das Bauernopfer. Das leblose Gesicht des Mädchens nahm eine normale Farbe an, wurde dann rosa und bedeckte sich schließlich mit flammend grellen Flecken. Die Brauen zogen sich zusammen, die klare Stirn verfinsterte sich, und die Augen blickten gar nicht mehr traurig.
»Dafür hat er mich also gebraucht! So ein Schwein!«, rief sie aus und ballte die Fäuste.
»Und ein Betrüger ersten Ranges«, sagte Fandorin höhnisch grinsend. »Wobei er dir noch nicht einmal am schlimmsten mitgespielt hat. Kennst du die Geschichte, wie er Ingas Liebe erobert hat?«
»Ja, sie hat es mir erzählt. Wir saßen abends zusammen, sie hat etwas getrunken und es mir erzählt. Sie wollte mir erklären, was die große Liebe ist.«
Nicholas schüttelte sich.
»Für meinen Geschmack ist sie entschieden zu groß. Ich bin sicher, dass auch das nur eine Schachpartie ist. Schach der Dame. Es war ihm zu wenig . . . ein Verhältnis mit ihr zu haben. Sie ist wohl wirklich der Traum seines Lebens, aber er wollte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele
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