Der Favorit der Zarin
Ich habe doch niemand etwas Böses getan. Das ist ja absurdes Theater . . .«
»Ein Theater bestimmt«, sagte Wolf zustimmend. »Oder richtiger: ein Zirkus. Das ist ein Circulus vitiosus. Diese Rächer liefern sich doch selber aus: Bevor sie den Kapitalisten um die Ecke bringen, schicken sie ihm ja das Urteil. Man braucht ihnen also nur eine Falle zu stellen, dann hat man sie, stimmt‘s?«
»Ja, stimmt eigentlich«, sagte Fandorin schon etwas hoffnungsvoller.
»Pustekuchen! Da es kein Gedöns in der Presse gibt, erfahren wir von einem neuen Abenteuer der Unfassbaren erst dann, wenn wieder eine abgefüllte und gut verpackte Leiche gefunden wird. Bei den Verurteilten handelt es sich um gestandene Leute, die den Verbrechern nicht so leicht auf den Leim gehen. Dass irgendwelche Kerle ohne Vorwarnung über sie herfallen, sind sie gewohnt; hier dagegen spielt sich irgendein dummes Spektakel ab: Da wird › ein Schwein und Betrüger verurteilt ‹ . Salzman hat das Urteil in den Papierkorb geworfen, wie ich Ihnen sagte. Gut dass es ein Freitagabend war und die Putzfrau ihn noch nicht geleert hatte. Bei Sjatkow hat der Zettel eine Woche, wenn nicht länger, herumgelegen. Er zeigte ihn seiner Frau und sagte, guck mal, was für Bekloppte heutzutage herumlaufen. Er wollte ihn wegwerfen, aber seine Gattin ließ es nicht zu. Sie wollte ihn behalten, um mit ihren Freundinnen darüber zu lachen. Na, nun hat sie was zu lachen . . . Jetzt hat sie weder Madame Sjatkowa übrigens, wie die Untersuchung ergab, ein sexuelles Verhältnis hatte.« Wolf lachte kurz auf. »In beiden Fällen sind die Zettel mit dem Urteil nur per Zufall dem Untersuchungsstab in die Hände gefallen. Es könnte durchaus sein, dass auch andere unaufgeklärte Verbrechen an reichen Persönlichkeiten, die nun die Radieschen von unten besehen, auf das Konto dieser Bande gehen.« Und der lustige Hauptmann stimmte plötzlich das Lied an: »Wie Sensenmänner stehen an den Straßen Tote / Schuld ist die Teufelsbrut, die rote.«
»Aber was hat das alles mit mir zu tun? Sie sehen ja, ich bin kein Millionär und habe niemand, den ich ausbeuten kann. Ich beschäftige in meiner Firma mit Ach und Krach einen einzigen Mitarbeiter!«
»Was ist das für eine Firma?«, fragte der Fahnder misstrauisch. »Womit machen Sie Kohle?«
Etwas verlegen versuchte Nicholas, sein originelles Business zu erklären: Die Leute gerieten dauernd in schwierige und ungewohnte Situationen und wären froh, einen qualifizierten Ratschlag zu erhalten, wüssten aber oft nicht, bei wem. Und dabei gäbe es nichts Wertvolleres als einen Rat zur rechten Zeit . . . Er erklärte das und wand sich unter dem durchdringenden Blick des Detektivs, denn er spürte selbst, wie dumm das alles klang.
»Aha«, sagte der Hauptmann, als Nicki verstummte. »Sie wollen also nicht die Wahrheit sagen. Das ist aber gar nicht schön, Nikolaj Alexandrowitsch. Wir hatten doch ausgemacht. . .«
»Hören Sie!« Nicholas kam zu sich. Offenbar erholte sich sein Hirn wieder nach dem ersten Schock; eine erste, wenn auch absurde Hypothese kam ihm in den Sinn. »Wenn es sich um irgendwelche Splittergrüppchen handelt, die dem kommunistischen Regime nachtrauern, vielleicht sind sie dann empört über den Namen meiner Firma? Vielleicht sehen sie darin eine Verspottung der Ideale der Oktoberrevolution? Man kann doch sicher herausfinden, wer der Mann war, der sich vom Dach herunterstürzte . . . beziehungsweise, der vom Dach gestürzt wurde, oder?«
»Tja, schön wär’s«, sagte Wolf seufzend. »Unser Fallschirmspringer hat weder besondere Kennzeichen noch Dokumente noch ein Handy. Wir haben ihm Fingerabdrücke abgenommen, die werden im Labor geprüft. Da werden wir einen Wust Papier ausfüllen müssen, und heraus kommt dabei nichts. Er hat keine Tätowierung, war also nicht im Läger. Man sieht auch so, dass er kein Krimineller ist.«
»Ja, vom Typus her wirkt er eher wie ein kleiner sowjetischer Funktionär. Aber wer sollte ihn umbringen wollen und warum?«
Der Milizionär stand auf, legte das letzte Foto in die Mappe und machte den Reißverschluss zu.
»Wahrscheinlich die eigenen Leute. Warum, das ist das Geheimnis zweier Ozeane, fragen Sie mich was Leichteres. Vielleicht hat er die Interessen des Proletariats verraten. Wer versteht diese perversen Missgeburten schon? Aber Missgeburten hin, Missgeburten her, sie verstehen ihr Metier. Und in diesem Zusammenhang gibt es eine höchst interessante Frage.« Der Hauptmann rückte
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