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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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nirgendwo hinzugehen und nichts zu tun, denn jede Handlung störte die Harmonie. Dieser Gedanke kam Nicholas’ schlafendem Hirn wie eine in ihrer erhabenen Einfachheit geniale Entdeckung vor. Noch während er aufwachte, hing er diesem Gedanken nach und drehte und wendete ihn hin und her.
    Es scheint uns nur, als ereigne sich etwas mit uns und wir schritten durch Zeit und Raum. Wir, das heißt: ich, das ist der einzige Fixpunkt im ganzen All. Um mich herum kann alles Mögliche geschehen, aber die Unerschütterlichkeit meines Ich ist garantiert, so dachte Fandorin, der noch nicht die Augen geöffnet hatte, und lächelte. Der Glassarg ist ein wunderbares Bild, dachte er, während er sich streckte. Aber da donnerte es draußen auf einmal wirklich, die regenüberströmten Fensterscheiben klirrten, und unter dem Ansturm des Windes öffnete sich das Klappfenster. Das Erste, was dem erschreckt aufspringenden Nicholas in den Sinn kam, war, ob er die Durchsichtigkeit und Stabilität dieser ungewöhnlichen Gruft nicht überschätzt hatte.

SECHSTES KAPITEL
    PARADISE LOST oder DAS VERLORENE
PARADIES
    (Milton, 1674)
    Gleich, gleich werden ihn die gespreizten fünf Finger am Kragen oder Ärmel packen, und dann wird sich dieser schmale Spalt für Mithridates Karpow in eine echte Gruft verwandeln. Es war völlig undenkbar, dass diese beiden Scheusale, die ein Kapitalverbrechen gegen die höchste Herrscherin planten, den Zeugen ihrer Untat am Leben ließen. So zu tun, als sei er noch klein und unbedarft, war vergeblich – schließlich hatte der Italiener gesehen, wie Mitja sich vor Seiner Durchlaucht hervorgetan und mit seinem Gedächtnis geglänzt hatte.
    Zephirka knurrte wütend, krallte sich einen ihrer Schätze und drückte ihn an die Brust; doch das langte ihr noch nicht, und so wählte sie einen Finger dieser dreisten Riesenpranke und biss hinein.
    Der Leibgardist fluchte, war aber so mutig, dass er die Hand nicht wegzog.
    »Du Ratte!«, schnaubte er. »Na, warte . . .«
    Er packte Zephirka am Fuß und zog sie ans Licht. Sie kreischte jämmerlich; das Fläschchen, das sie krampfhaft in ihrer Pfote hielt, glitzerte.
    »Ach, du ahnst es nicht! Schaut mal, Jeremej Umbertowitsch«, sagte Pikin und lachte schallend. »Nicht der Rabe hat das Fläschchen geklaut, sondern ein anderes Vögelchen, eine diebische Elster! Da haben wir uns umsonst geängstigt. Was hat sie denn da noch erbeutet?«
    Mitja traute sich nicht zu atmen – schon wieder streckte sich die Hand nach ihm aus.
    Von Entsetzen gepackt, schob er ihr alles entgegen, was auf dem Ofen lag: Essensreste, seine Schnalle und den Stern des Alten.
    Und dieser Stern rettete ihn.
    »Das ist ja toll!« Pikin sprang polternd auf den Boden. »Lasst uns die Beute teilen, Exzellenz. Die Schnalle ist für Euch, meinetwegen auch der Apfelkuchen, aber der Alexander-Newski-Orden ist für mich. Ich löse die Diamanten heraus und bringe sie ins Pfandhaus, das lohnt sich ja auch für Euch, dann kann ich wenigstens einen Teil meiner Schulden bezahlen.«
    Mitja tat der alte Mann, dem der Stern gehörte, Leid, aber was konnte er schon machen?
    »Wie klein sie ist, als ob sie von einem Spielzeug stammt oder einem Kind gehört«, murmelte Metastasio zerstreut (er meinte offenbar die Schnalle, was hätte er sonst meinen sollen?). »Egal, Ende gut, alles gut. Zur Sache, Pikin. Mit diesen Steinchen werdet Ihr Eure Schulden nicht bezahlen können. Aber wenn Ihr jetzt alles genau ausführt, dann sind wir quitt. Sobald die Alte nachts Migräne kriegt und anfängt, zu erbrechen, bekommt Ihr Eure Wechsel und die Quittungen. Und wenn das Testament vollstreckt wird, eröffne ich Euch einen neuen Kredit über Zehntausend.«
    »Über Fünfzigtausend«, sagte der wackere Preobrashenze. »Und dabei kommt Ihr noch gut weg. Wenn die Plattnase leer ausgeht, habt Platon und Ihr ganz Russland in der Tasche . . .«
    Sie gingen zum Ausgang. Gott sei Dank, sie waren weg. Er konnte hinauskriechen.
    Am Abend speisten sie im engsten Kreis bei der Herrscherin im Brillantzimmer. Die Kaiserin persönlich, der erhabenste Enkel ohne Gattin, der Favorit, zwei alte und sehr hässliche Damen und der Admiral Kosopoulos.
    Es waren auch noch der Chef der Geheimexpedition Maslow dabei und der schreckliche Sekretär von Surow, aber die beiden saßen nicht am Tisch, sondern auf Hockern: Ersterer hinter der Kaiserin, Letzterer gegenüber, hinter dem Fürsten. Beide hatten eine Schreibunterlage, einen Stapel Papier und ein Tintenfass

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