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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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mit Feder auf dem Schoß – wenn Ihrer Majestät oder Seiner Durchlaucht ein staatswichtiger oder einfach ein bedeutender Gedanke in den Kopf kam, mussten sie ihn sofort notieren.
    Allerdings geschah das den ganzen Abend kein einziges Mal. Das lag wahrscheinlich an dem Admiral. Er plapperte unablässig und erzählte Geschichten und Scherze, die uninteressant waren -jede Geschichte endete damit, dass sich jemand bei einer großen Versammlung in die Hose machte oder kotzte oder mit jemandes Weib ins Bett ging und nackt aus dem Fenster sprang. Mit einem Wort, die ewigen Witze der Erwachsenen. Dass sie es nicht leid werden!
    Der Kaiserin gefiel das. Sie lachte Tränen über die Geschichten des Admirals, besonders wenn unanständige Wörter vorkamen; ein paar Mal wiederholte sie sie sogar. Und da prusteten die anderen ebenfalls.
    Katharina wirkte jetzt ganz anders als zuvor in der Kleinen Eremitage. Ihre Kleidung war schmucklos: ein locker fallendes Gewand und eine weiße Tüllhaube; das Gesicht war gelöst und einfach.
    »Köstlich«, sagte sie. »Nur hier kannst du mal nach Herzenslust ausspannen.«
    Mitja fand das einen merkwürdigen Ort, um sich zu erholen. Feierlich funkelten in den Glasschränken die Reichsinsignien: die große und die kleine Krone, das Szepter, der Reichsapfel und die anderen Kronjuwelen. An den Wänden hingen Standarten aus Seide und Brokat. Hier müsste man in vollem Festornat erscheinen und strammstehen, und da will sie entspannen. Offenbar erholt sich die Seele der Herrscher auf andere Art als die der gewöhnlichen Sterblichen.
    »Ja, das tut wirklich gut.« Die Kaiserin räkelte sich wohlig. »Als ob zwanzig Jahre von mir abgefallen wären. Verzeih, mein Freund«, sagte sie zu dem Enkel, »dass ich deine Lisa nicht geladen habe, sie ist zu rosig und hübsch. Mit diesen alten Tanten neben mir komme ich mir wie eine Schönheit vor.« Und lächelnd sagte sie zu der auf jaulenden Windhündin: »Ach, pardon, meine liebe Adelaida Iwanowna, ich hätte dich fast vergessen. Du bist natürlich ebenfalls eine Schönheit.«
    Der Hund freute sich über die Aufmerksamkeit und wedelte mit dem Schwanz; die Zarin aber wandte sich nun ganz unzeremoniell, ohne ihn zu siezen, an den Favoriten und sagte kokett:
    »Du musst traurig sein, mein Platochen. Der erste Beau, das bist heute nicht du, sondern dieser liebreizende Kavalier.« Und sie deutete auf Mitja. »Spiel nur schön, mein Engelchen, spiel. Warte, ich komme nachher und spiele mit dir.«
    Mithridates Karpow hatte folgende Anordnung erhalten: Man hatte ihm aufgetragen, auf dem Boden herumzurobben, wo man extra bunte Würfel hingelegt und Holzsoldaten aufgestellt hatte. Diese Aufmerksamkeit war natürlich nett gemeint, aber die Erwachsenen sind wirklich schwer von Kapee. Was sollten Würfel und Soldaten, wo sie doch schon gestern gesehen hatten, dass er ihnen an Verstand in nichts nachstand?
    Aber auch wenn sie Mitja statt Säuglingsfreuden ein spannenderes Spielzeug angeboten hätten, zum Beispiel logarithmische Tafeln, ihm war momentan sowieso nicht nach Unterhaltung zumute. Die Holzwürfel rührte er noch nicht einmal an; er konnte die Augen nicht von einem Kristallfläschchen abwenden, das neben der Kaiserin stand. War es dasjenige welche oder nicht? Hatte Pikin es nun ausgetauscht oder nicht?
    Da Fastentag war, stand nur Fisch und Obst auf dem Tisch, und der ganze Fisch wurde von Kosopoulos aufgegessen, die anderen rührten fast nichts an. Sie hatten wahrscheinlich gewusst, dass es hier nicht viel gab, und vorher gegessen, erriet Mitja. Was die Getränke betraf, so hatte jeder sein eigenes Gebräu: vor der Zarin stand außer dem Fläschchen noch eine Karaffe Johannisbeersaft, der Favorit trank Bier, der Admiral englischen Punch Fifty-fifty, der Großfürst begnügte sich mit Tee, die Alten nippten an einem Likör, während Maslow und der Engländer ohne etwas dasaßen.
    Zweimal streckte sich Katharinas Hand nach dem fatalen Fläschchen, und Mitja erstarrte vor Entsetzen, aber im letzten Moment zog sie den Saft vor.
    Wie, ja wie sollte er sie nur auf die Lebensgefahr hinweisen?
    Den ganzen Tag über hatten sie Mitja in den Gemächern des Favoriten gehalten. Zu tun hatte er zwar nichts, aber weglaufen ging auch nicht – die Tür wurde streng bewacht, ohne Sondererlaubnis ließen sie ihn nicht hinaus. Er dachte, er werde es ihr abends sagen, wenn sie ihn in das Brillantzimmer brächten; aber ausgerechnet der Bösewicht Jeremej Metastasio führte ihn

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