Der Favorit der Zarin
Nicholas ganz dicht auf den Pelz und starrte ihm in die Augen, wofür er sich auf die Zehenspitzen stellen musste. »Was ist bei Ihnen, lieber Bürger Fandorin, schief gelaufen? Der Exekutor ist tot, und Sie leben. Sie sind schön blöd, dass Sie sich dumm Stellen. Ja, ganz schön blöd. Und wenn man Sie nun doch noch so fürsorglich einpackt? Mir kann das ja egal sein, es geht schließlich nicht um mein Leben, das ist Ihr Problem.«
Und während er zur Tür schritt, trällerte er fröhlich das Lied des berühmten pazifistischen Zeichentrickfilm-Katers Leopold: »Auch diese Sorge / Löst sich schon morgen.«
Nicki fuhr ihn erschrocken an:
»Moment mal! Sie können mich doch nicht einfach meinem Schicksal überlassen, als wäre ich ein Multimilliardär mit Bodyguards!«
»Die kann man bei uns auch nicht ausleihen«, sagte der Fahnder achselzuckend. »Zwar gibt es bei der Kripo eine Abteilung zum Schutz von Zeugen, aber Sie lehnen es ja ab, sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen. Wollen Sie wirklich bei Ihrer Version bleiben? Ich brauche unbedingt einen Hinweis.«
Er drehte sich nach Nicholas um und wartete ein wenig.
»Sie weigern sich also. Gut, jeder ist seines Glückes Schmied. Sollten Sie es sich anders überlegen, hier meine Telefonnummer.«
Er hielt ihm eine Visitenkarte hin, machte Winkewinke, und weg war er. Eine Sekunde später fiel die Wohnungstür ins Schloss, Fandorin war allein.
Stopp! Jetzt bloß nicht vor Angst schlottern! Damit musst du warten, bis die Kinder eingeschlafen sind!
Er zog die Lippen zu einem breiten Lächeln auseinander und ging zum Kinderzimmer. Was war das noch für ein Märchen, das er erzählt hatte? Ach, ja, vom bösen Wolf. Und wo war er stehen geblieben? Verflixt, er konnte sich nicht erinnern. Jetzt würden sie ihn wegen seiner Vergesslichkeit anpflaumen.
Er musste das Märchen nicht zu Ende erzählen. Wenigstens in diesem Punkt wurde Nicholas eine Amnestie gewährt. Ohne die Rückkehr des Märchenerzählers abgewartet zu haben, waren die Zwillinge eingeschlafen. Gelja war zu ihrem Bruder ins Bett gekrochen und hatte ihr goldenes Köpfchen auf seine Schulter gelegt.
In dieser Haltung sah sie so erwachsen aus, dass Fandorin zusammenzuckte. Altyn, Expertin für Fragen des Geschlechts, hatte Recht! Sie brauchten beide ein eigenes Zimmer. Das fünfte Lebensjahr ist eine Phase primärer Erotik. Und er hätte auf keinen Fall diesen Unsinn von der Liebe zwischen Bruder und Schwester erzählen dürfen!
Aber im nächsten Moment sah er die unter der Decke heraushängende Hand Erasts mit dem fest umklammerten Spielzeugdegen und schämte sich seiner erwachsenen Verderbtheit. Er hatte die Kinder im dunklen Wald allein gelassen, vor dem geöffneten Schlund des schrecklichen Wolfes, war weggegangen und lange nicht wiedergekehrt. Da hatte Gelja bei ihrem Bruder Schutz gesucht.
Nicholas lockerte vorsichtig die Finger seines Sohnes und nahm den Degen an sich. Er verließ das Zimmer auf Zehenspitzen, wobei er den Plastikdegen krampfhaft an sich presste.
Unsinn, was für ein Unsinn! »Schwein und Betrüger«? »Zum höchsten Strafmaß verurteilt: der Vernichtung«?
Ein Tag verläuft wie der andere; und so scheint es, als habe das Leben Logik und Sinn. Davon geht auch die Schnecke aus, die sich auf den Eisenbahngleisen wärmt. Und dann nähert sich auf einmal von irgendwo etwas Riesiges, Schwarzes, Rasselndes, vor dem es keine Rettung gibt.., Wofür, warum – gibt es etwas Dümmeres als diese Fragen? Für nichts, aus keinem Grund. So hat es die Natur gewollt; warum, ist nicht unsere Sache.
Gott sei Dank war seine Frau nicht zu Hause, und niemand konnte sehen und hören, wie Nicki verzagt durch die Zimmer irrte und verwirrt jammerte und klagte.
Um seine Hysterie zu dämpfen, kippte er drei unverdünnte Whiskys. Sofort kam ihm der weise alkoholbedingte Fatalismus zu Hilfe, der ihm einflößte: Wenn es dein Schicksal ist, so entkommst du ihm nicht; aber strampeln solltest du trotzdem. Fandorin beschloss, die Sache zu überschlafen, und legte sich ins Bett, nachdem er für alle Fälle zwei Beruhigungstabletten eingenommen hatte, die ihm sofort einen beruhigenden Traum bescherten: Er war tot und war es nicht. Da lag er also wie Schneewittchen in einem Glassarg und blickte sich um. Draußen war ein Gewitter, die Blitze leuchteten, der Regen prasselte auf das durchsichtige Dach, aber die wunderbare Gruft war gemütlich und schützte. Er brauchte sich über nichts aufzuregen, brauchte
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