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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Die Köche legten sich deshalb auf die faule Haut und servierten angebrannte Grütze, versalzenes Rührei und kalten Kaffee. In Trost hatte Mitja zwar nicht aus Silbergeschirr gegessen, aber das Essen war sehr viel leckerer gewesen.
    Dann begann der Unterricht, für den ein besonderes Klassenzimmer vorgesehen war. Neben Interessantem – Mathematik, Geographie, Geschichte und Chemie – unterrichtete man ihn auch in manchem, wozu ihm die Zeit zu schade war.
    Reiten auf einem britischen Pony oder Fechten, das ging ja noch an, ohne das kommt ein Adeliger nun mal nicht aus, aber Tanzen! Ein Menuett, den Russischen Tanz, die Anglaise, die Ecossaise, den Großvatertanz. Was für ein entsetzlicher Unsinn: zur Musik zu hüpfen, sich hinzuhocken, die Arme zu schwingen und mit dem Absatz zu stampfen. Als ob der Mensch nichts Wichtigeres zu tun hätte, als ob schon alle Geheimnisse der Natur entdeckt, alle Meeresabgründe erforscht, alle Krankheiten geheilt und das Perpetuum mobile erfunden wäre!
    Und der Unterricht in der schönen Wortkunst? Wer braucht denn diese künstlichen, unwahrscheinlichen Märchen? Bevor er vier Jahre alt war, hatte Mitja noch selbst Romane gelesen, weil er noch nicht verständig genug gewesen war und gedacht hatte, das seien alles wahre Geschichten. Dann hatte er auf gehört, die Literatur liefert keine nützlichen Informationen, das ist vertane Zeit. Und nun musste er Stücke vortragen, mit verteilten Rollen: »Les précieuses ridicules«, »Hamlet, Prince of Denmark«, »Le cocu imaginaire« und ähnlichen Blödsinn.
    Nach dem Mittagessen standen Billard und Bilboquet auf dem Stundenplan. Aber vorher hatte er Zusatzunterricht in den Disziplinen, die er schlecht beherrschte. Das waren zwei: Singen und Schönschrift. Wenn ein Mensch keinen Sinn für Musik hat, dann kann man nichts machen, aber gegen seine schlechte Schrift kämpfte Mitja mit großem Ernst an. Sie war wirklich unleserlich. Die Buchstaben klebten aneinander, die Worte verhakten sich zu einem Abrakadabra, und die Zeilen spazierten über das Papier, wie es gerade kam. Er hatte sich das Schreiben ja selber beigebracht, nicht wie andere Kinder, die lange die einzelnen Buchstaben malen. Sein Denken war immer schneller als seine Hand.
    Als Mithridates einmal keuchend mit der Feder kratzte und das wunderbare Velin verdarb, betrat die Kaiserin das Zimmer. Sie betrachtete die Leiden des Kindes, küsste ihn in den Nacken, und um zu zeigen, wie man schreiben muss, kritzelte sie oben auf das Blatt: »In ewiger Dankbarkeit. Katharina«. Der Lehrer befahl, die unteren Krakeleien abzuschneiden und den oberen Rand als wertvolle Erinnerung aufzuheben. Mitja machte das auch und schickte den Zettel mit der nächsten Post nach Trost.
    Die Verbrecher, die das Gift in das Fläschchen mit dem Likör des Admirals gestreut hatten, hatte man bisher nicht ausfindig gemacht. Er hätte Mütterchen Zarin alles erzählen mögen, was er auf dem Ofen gehört hatte, aber er hatte zu große Angst. Und wenn Metastasio es abstritt (und das würde er zweifellos tun!), wenn er forderte, ihm den Denunzianten vorzuführen (und das würde er zweifellos tun!)? Hauptsache, er musste nicht in die schwarzen, bohrenden Augen sehen! Schon von dem Gedanken an diesen Blick bekam er einen trockenen Mund und einen flauen Magen. Mitja hatte gehört, wie Prochor Iwanowitsch Maslow Ihrer Majestät vom Stand der Ermittlung berichtet hatte: Seine Leute rissen sich die Beine aus und seien auf etwas gestoßen, aber der Brocken sei zu groß, er fürchte, er ginge ihnen durch die Lappen. Das war allerdings wirklich ein großer Brocken! Vielleicht kommt der gründliche Alte selber dahinter, dachte Mitja ängstlich.
    Die große Monarchin nannte ihren kleinen Retter »Talismännchen« und genoss es, ihn in ihrer Nähe zu haben, besonders wenn sie wichtige Staatsangelegenheiten erledigte. Sie wiederholte gerne, die Vorsehung selber habe ihr diesen Knaben geschickt, es sei Gott gewesen, der dieses kleine Kind gedrängt habe, das todbringende Glas auf den Boden zu werfen. Wenn die Gebieterin über einer schweren Entscheidung brütete, bedachte sie den Studenten manchmal mit einem merkwürdigen Blick, der halb prüfend und halb furchtsam war. Manchmal fragte sie ihn auch nach seiner Meinung. Mitja war zuerst stolz über eine solche Respektbekundung gewesen; aber dann war ihm klar geworden, dass sie nicht seinen Verstand, sondern etwas anderes brauchte. Es ging ihr nicht um den direkten Sinn des

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