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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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üblich hörte die Zarin nicht darauf. Ob er wollte oder nicht, er musste also herumliegen und nachdenken.
    Der wuchtige Kronleuchter thematisierte den Triumph der Frömmigkeit: um die zentrale Gestalt eines bärtigen Mönches, der die Frömmigkeit symbolisierte, tanzten Sänger mit Zimbeln und Harfen einen Reigen. Er lag da und dachte darüber nach, wie man die Gerichtsbarkeit so verändern könne, dass die Richter zu einem ehrlichen Urteil kämen, keine Angst vor den Behörden hätten und keine Geschenke von Klägern und Angeklagten annähmen. Diese Aufgabe war nicht gerade leicht und eignete sich wenig für die Nacht, so dass Mitja unmerklich einschlummerte, allerdings nicht sonderlich tief und nicht für lange. Er wachte auf, denn es kam ihm so vor, als habe die Tür geknarrt. Dann hörte er ein leises Ächzen, als ob etwas risse. Er strengte seine Augen an, um zu verstehen, was vor sich ging. Auf der bronzenen Rundung des Kronleuchters flackerte der fahle Reflex einer Laterne vor dem Fenster. Auf einmal wackelte der Reflex; zuerst ruckelte er, dann bewegte er sich, immer größer und schneller werdend, nach unten. Mitja begriff weniger vom Verstand als vom Gefühl her, dass der Kronleuchter dabei war herunterzufallen, und warf sich auf den Boden. Er verstauchte sich den Ellenbogen, aber wenn er auch nur einen halben Augenblick länger gewartet hätte, hätte das herunterfallende Ungetüm Hackfleisch und Knochenmehl aus ihm gemacht. Die dicken Füße des Bettes brachen von dem Aufprall ab, und die Bettstatt barst in der Mitte in zwei Hälften.
    Später, als man die Sache untersuchte, stellte sich heraus, dass die Fasern des Strickes gerissen waren, an dem man das Bronzeungeheuer herunterließ, um die Kerzen anzuzünden. In der ersten Zornesaufwallung befahl die Kaiserin, dem Diener, der über die Leuchter zu wachen hatte, wegen Fahrlässigkeit ein Brandmal aufdrücken zu lassen und ihn nach Sibirien zu schicken, aber später erbarmte sie sich und ordnete nur an, ihn auszupeitschen und zu den Soldaten zu stecken.
    Mitja hatte sich nicht sonderlich erschreckt. Er erklärte sich den Vorfall mit der feindseligen Einstellung des Palastes, von dem man jeden bösen Spuk erwarten konnte. Aber nach einer Woche erschien die Angelegenheit in einem ganz anderen Licht.
    Seine Expeditionen zur Untersuchung des steinernen Kolosses hatten inzwischen den Keller erreicht, wo sich Abstell- und Küchenräume befanden. Lebensmittel und Essenszubereitung interessierten Mithridates nicht, aber hinter dem Weinkeller hatte er eine interessante Stelle gefunden: einen alten, mit Stein ausgelegten Brunnen, möglicherweise das Relikt eines älteren Baus. Bevor man die Rohre verlegt hatte, hatte man wahrscheinlich hier das Wasser zum Kochen geholt; jetzt aber war er unbenutzt. Der Brunnen war nicht besonders tief, bis zum Wasserspiegel war es nicht mehr als einen halben Klafter (der Boden ist ja in Petersburg sumpfig, bis zum Grundwasser ist es immer nah). An allen vier Seiten waren Steinstufen, damit der Küchenjunge sich besser hatte bücken und mit dem an einem Stock befestigten Eimer Wasser schöpfen können.
    Da der Brunnen keine Funktion mehr hatte, beschloss Mitja, ihn für ein chemisches Experiment zu nutzen: Er wollte dort die Kristalle von Kupfervitriol heranziehen. Der Ort war kalt und ohne störende Ausdünstungen. Er ließ also zwei Glasbehälter mit übersättigter Lösung an Stricken herab; in dem einen Behälter war ein einfacher Faden, in dem anderen ein Seidenfaden. Dreimal pro Tag ging er nachsehen, ob sich Kristalle gebildet hatten.
    Am dreiundzwanzigsten Februar, an einem Freitag, frühmorgens, begann der Prozess in dem ersten Behälter. Unübersehbar funkelten die blauen Körnchen an dem rohen Zwirn. Hurra!
    Mitja ließ den Behälter wieder hinunter. Er beugte sich nach vorne, um den zweiten Behälter hochzuholen, doch da packte ihn eine Hand am Rockschoß, die andere am Kragen und warf ihn kopfüber nach unten. Aus den Augenwinkeln konnte er noch gerade einen grünen Ärmel mit roter Manschette sehen, im nächsten Augenblick schlug auch schon das schwarze Eiswasser über ihm zusammen.
    Spuckend und nach Luft ringend kam er in der Finsternis an die Oberfläche. Er strampelte mit Händen und Füßen. Er versuchte zu schreien, in dem steinernen Quadrat hallte der Schrei dumpf wider, aber in der Küche war er nie im Leben zu hören – sie war zu weit, und es war da zu laut. Wenn nicht die Stricke dagewesen wären, an denen

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