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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Gesagten, sondern sie versuchte, im Klang der Wörter eine geheime Bedeutung zu entdecken, als spräche nicht ein kleiner Höfling in Samtweste, sondern die Pythia von Delphi.
    So war es beispielsweise beim nachmittäglichen Rapport geschehen. Die Kaiserin saß erschöpft da, mit geschlossenen Augen. Ob sie zuhörte oder nicht, war unklar. Hinter ihr stand ein Kammerfräulein, das Ihrer Majestät mit den Fingern durch die Haare fuhr. Sobald sie ein Insekt fand, drückte sie es mit dem Fingernagel gegen eine flache, goldene Schachtel, eine Läusefalle. Mitja saß an seinem üblichen Platz und las Linnés »Philosophia botanica«.
    Der Kammersekretär, ein ungemein tüchtiger junger Mann, der allerdings sehr hässlich war (wer hätte denn auch einen schönen Mann zu einem solchen Amt zugelassen?), las die Depeschen vor.
    »Im verflossenen Jahr, Anno Domini 1794, wurden in der Stadt Sankt Petersburg 6750 Menschen geboren, es starben 4015.«
    Die Kaiserin öffnete die Augen:
    »Um wie viel hat die Bevölkerung also zugenommen?«
    Der Kammersekretär musste überlegen, Mitja aber sagte wie aus der Pistole geschossen:
    »Zweitausendsiebenhundertfünfunddreißig.«
    »Sie vermehren sich, das heißt, sie sind satt, haben keine Angst und sind mit ihrem Leben zufrieden«, sagte Katharina und schloss die Augen wieder.
    Der Vortragende las weiter:
    »Eine Nachricht aus Amerika. Gegen die Indianer, die die Gegend von Kentucky unsicher machten, wurde ein Corps von Freiwilligen geschickt, das sie vernichtend geschlagen hat.«
    Mitja dachte an den riesigen Indianer. Er stellte sich vor, wie dieser sich nachts an die Farm eines weißen Siedlers heranschleicht. In der Hand hat er eine Streitaxt, auf dem Rücken einen Köcher mit Pfeilen. Wie schrecklich! Das haben die Freiwilligen toll gemacht.
    »Ebenfalls aus Amerika. Eine unangenehme Nachricht von der Inselgruppe Guadeloupe. Anfang Oktober haben die Franzosen die Engländer gezwungen, zu kapitulieren und sich nach England zurückzuziehen, wobei sie versprechen mussten, die Französische Republik im weiteren Kriegsverlauf nicht mehr zu bekriegen.«
    Die Zarin machte ein verdrießliches Gesicht, sie mochte die Franzosen nicht.
    Der Kammersekretär druckste herum:
    »Hier ist etwas noch Schlimmeres . . .«
    »Na los«, sagte die Kaiserin kopfschüttelnd. »Ich kenne dich doch, du Jesuit. Das Schlimmste hebst du dir für den Schluss auf. Du guckst erst, ob ich wütend bin. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin nicht wütend.«
    Da las der junge Mann leise:
    »Die Franzosen haben Amsterdam eingenommen . . .«
    »Um Gottes willen!«, stöhnte Katharina. »Wann bietet diesen verfluchten Kerlen denn endlich jemand die Stirn?«
    Und sie drehte sich auf einmal zu Mitja und fragte ihn:
    »Was soll ich machen, mein Lieber? Mich mit Europa gegen die Jakobiner verbünden oder weiter zugucken, wie sie sich gegenseitig abschlachten? Sag mir, mein Freund, wie kommt es, dass diese Habenichtse immer siegen? Dabei fehlt es ihnen doch an Gewehren und Kanonen, an Uniformen und Proviant! Wie erklärt sich dieses Unglück?«
    Und sie blickte ihn hoffnungsvoll an, als müsse sich ihr jetzt eine große Wahrheit offenbaren.
    Und Mitja setzte sich liebend gerne für das Wohl der Menschheit ein. Den Linné hatte er zur Seite gelegt, er gab sich Mühe, sich möglichst einfach auszudrücken und nicht zu schwülstig zu reden, damit sie es verstand:
    »Sie besiegen deshalb jede Armee, weil bei den Franzosen jetzt Gleichheit herrscht und bei ihnen der Soldat kein Herdentier ist, das nur vorrückt, weil hinter ihm ein Korporal mit dem Stock steht. Ein freier Kämpfer versteht sein Metier und weiß, wofür er kämpft. Das ist nun mal so: Freie Menschen arbeiten und kämpfen immer besser als unfreie.«
    Auf diese Weise wollte er der Protagonistin von Dershawins Ode »Feliza« wenigstens einen diskreten Wink geben, dass man am Ende des achtzehnten Jahrhunderts doch nicht einen Großteil der Untertanen in schändlicher Sklaverei halten konnte.
    Sie antwortete aber:
    »Das stimmt! Ja, wirklich, Kindermund tut Wahrheit kund!« Und sie wandte sich an den Sekretär und sagte ihm: »Schreib folgenden Erlass: Beim nächsten Mal sollen nicht die Leibeigenen, sondern die freien Bauern die Rekruten stellen, denn als frei Geborene taugen sie besser für das Kriegshandwerk.«
    Sie küsste den vor Schreck erstarrten Mitja auf die Wangen und schenkte ihm einen lackierten Schlitten aus dem Zaren-Fuhrpark.
    So ist das also, wenn

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