Der Favorit der Zarin
rauskriegen!«, warnte Mitja und appellierte an die Vernunft des Verbrechers. »Prochor Iwanowitsch wird dahinterkommen!«
Pikin hörte auf, den Jungen hin- und herzuschwingen und dachte kurz nach.
»Er wird es nicht nachweisen können. Der Bengel ist am Fenster herumgeklettert und dabei abgerutscht. Nun flieg mal schön, mein Spätzchen.«
Und mit diesem Geleitwort schleuderte er den Studenten der Zarin nach unten, geradewegs gegen die scharfen Igelstacheln.
Aber der Preobrashenze hatte sich verrechnet – das Wurfgeschoss war eben reichlich leicht und flog ein Stückchen weiter als geplant.
Die tödlichen Stacheln huschten unmittelbar vor dem Gesicht des brüllenden Mithridates vorbei und spießten ihn nicht auf. Er hätte sich ohne Zweifel aber auch so auf den Granitstufen das Genick gebrochen, wenn nicht ein Wunder geschehen wäre, schon das zweite an diesem schrecklichen Tag, wenn man an die Rettung aus dem Brunnen dachte.
Die Treppe stieg eine Dame empor, die barocke Ausmaße hatte; ihre Frisur bestand aus Zweigen, auf denen eine Pappnachtigall thronte, und das weite korbförmige Gewand stellte eine blühende Lichtung dar. Und auf ebendiese Lichtung plumpste Mitja. Er trug von den Rosenzweigen und dem Weidenruten-Reifrock Kratzer davon und zerriss sich das Wams, aber er stürzte nicht zu Tode, sondern prallte von dem elastischen Reifrock ab und kugelte nur die Treppe hinunter. Die Retterin des Knaben war mehr tot als lebendig. Die ganze rechte Hälfte ihres Gewandes war verschwunden, und in ihrem Schlüpfer von der rosigen Farbe angeknackster Keuschheit glich die Dame nun einer nackten Najade, die hinter einem Strauch hervorlugt. Ihr Schrei, der eine Sekunde später ertönte, war herzzerreißend, und der Junge, der von dem Fall benommen war und auch sonst nichts mehr verstand, stürzte Hals über Kopf weg von diesem Geheul, von dem Holzigel und von dem ganzen lichtdurchfluteten Palast.
Wie er durch den Garten gelaufen und aus dem Tor gestürzt war, wusste er hinterher nicht mehr. Durch die Kälte kam er wieder zu sich. Er rannte auf dem verschneiten Platz noch eine Weile hin und her, war aber schließlich zu sehr durchgefroren und verstand: Er konnte nirgends hin, er musste zurückgehen und sich der Kaiserin zu Füßen werfen und ihr alles haarklein erzählen. Entweder würde sie es glauben und ihn verteidigen, oder sie würde einen Wutanfall kriegen und ihn zu Vater und Mutter zurückschicken. Letzteres wäre vielleicht sogar besser.
Er verschränkte die Arme vor Kälte und schlenderte zurück zum Tor.
»Wohin willst du?«, brüllte ihn ein Wachposten an. »Zisch ab.«
»Ich bin Mithridates, der Student der Zarin«, erklärte Mitja, aber der Soldat antwortete nur mit einem unflätigen Fluch und sagte:
»Da hast du Miststück dir aber einen schönen Bart angeklebt!«
Und er riss den künstlichen Bart von Mitjas Kinn und gab ihm eine solche Ohrfeige, dass der Wunderknabe kopfüber in einer Schneewehe landete.
Er schüttelte den Kopf, um das Ohrensausen loszuwerden. Ihm war nicht gleich bewusst, dass ihm der Rückweg endgültig versperrt war.
Er lief zu einem anderen Tor, wo ein freundlicherer Soldat stand. Der lachte einfach über die Schnapsidee von einem Studenten der Zarin und winkte ab, schlug ihn aber wenigstens nicht.
Und wirklich: Was sollte der lumpige Kerl in seinen Bastschuhen denn auch für ein Mithridates und Liebling der Kaiserin sein? Da lachten ja die Hühner.
Mitja hüpfte auf der Stelle, um nicht ganz zu erfrieren, und versuchte, die beste Waffe zu nutzen: die Vernunft. Aber je mehr er über das geschehene Ungeschick nachdachte, umso verzweifelter stellte sich ihm seine Lage dar.
Sollte er ins Winterpalais laufen, nach Hause? Da würden sie ihn erst recht nicht hineinlassen. Die in gehöriger Entfernung vom Palast aufgestellten Wachposten, an denen man nicht vorbeikam, waren schlimmer als Hunde. Wie oft hatte er gesehen, wie sie die Schaulustigen mit Püffen und Kolbenstoßen verjagten.
Ob er warten sollte, bis der Maskenball zu Ende war, und sich an einen Bekannten wenden? Aber wie lange konnte er es noch in der Kälte aushalten? Da ginge er bei drauf.
Der unzugängliche Palast strahlte mit seinen wunderbaren Lichtern, der Wind trug die Töne einer Himmelsmusik her; offenbar hatten die Tänze begonnen. Hinter dem Zaun und den schwarzen Gartenbäumen lag ein richtiges Paradies. Solange er im Inneren dieses Paradieses gesteckt hatte, hatte der undankbare Mithridates sein Glück
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