Der Favorit der Zarin
Tschudowo.
»Mitjuschenka, ich habe dir doch gestern Märchen erzählt. Weißt du noch?«
Er nickte.
»Möchtest du noch eins hören?«
Die Gesetze des Respektes verlangten eine positive Antwort.
»Ja, mösste iss.«
»Dann hör mal zu. Es war einmal eine Zarentochter, die hieß Mar ja . . . Nun, Zarentochter war sie eigentlich nicht, aber ein gnädiges Fräulein.« (Offenbar erzählte sie von sich selber, erriet Mitja und spitzte die Ohren.) »Sie lebte mit ihrem Vater, die Mutter hatte sie schon als Kind verloren. Und auch ihren Vater sah sie nicht oft, der war immer im Krieg und kämpfte mit dem Flunderwunderwalfisch, der die christlichen Völker unterjochen wollte.« (Ihr Vater fuhr also zur See und kämpfte gegen die Türken. Aha.) »Und eines schönen oder richtiger entsetzlichen . . . Das heißt, sie fand das entsetzlich, später stellte sich dann aber heraus . . . Obwohl das natürlich wirklich entsetzlich war . . .« An dieser Stelle verhedderte sich Pawlina Anikitischna selber, was das nun für ein Tag war, ein schöner oder entsetzlicher; aber da sie es nicht entscheiden konnte, winkte sie ab und fuhr in ihrer Erzählung fort. »Eines Tages kam jedenfalls ein Recke in ihren Palast, ein alter Kamerad ihres Vaters, und sagte: › Weine, mein schönes Mädchen, dein Vater ist tot, er wünscht dir ein langes glückliches Leben und hat dich vor seinem Tod meiner Sorge anvertraut; ich soll aufpassen, dass dich niemand beleidigt, und soll dir einen guten Bräutigam suchen. ‹ « (Aha, ihr Vater hatte also einen Kampfgefährten vor seinem Tod zu ihrem Vormund bestellt. Das geschah häufig.) »Sie weinte natürlich und litt schrecklich, aber sie musste ja irgendwie weiterleben, und dieser Recke blieb eine Weile bei ihr. Anfangs gefiel er ihr gar nicht. Dürr, hager, mit Hakennase, wie das Klappergestell Kastschej der Unsterbliche aus dem Märchen, und heimlich nannte sie ihn auch so. Er war ebenfalls viel zur See gefahren, war weit herumgekommen und hatte durch seine Schiffe verschiedene Länder kennen gelernt.« (Nicht »ein Schiff«, sondern »Schiffe«. Wahrscheinlich war es kein einfacher Offizier, sondern ein Admiral.) »Wenn er erzählte, konnte man sich nicht satt hören. Allmählich gewöhnte sie sich an Kastschej, hatte keine Angst mehr vor ihm und freundete sich mit ihm an. Und als er ihr Hand und Herz antrug – so sagt man, wenn jemand ein Mädchen heiraten will –, da dachte sie: Warum nicht. Er ist ein guter Mensch, klug, mit der Zarenfamilie verwandt und mein Vater hat ihn geschätzt. Besser als einen jungen Trottel heiraten, der sich noch nicht die Hörner abgestoßen hat. Und sie willigte ein.« (Ach, darum hatte die Zarin sie also »Schwägerin« genannt – sie war durch ihren Mann Gräfin Chawronskaja geworden. Die Chawronskis, das wusste jeder, waren mit dem Kaiserhaus verwandt.) »Und sie bereute es nicht. Sie lebte wie bei ihrem verstorbenen Vater, nur noch besser, weil Kastschej sie noch mehr verwöhnte, er scheute keine Ausgabe für sie. Alte Männer sind in der Liebe klüger als junge und wissen, wie man ein Weiberherz für sich einnimmt. Du bist für sie Weib und Tochter in einem, was kann es Besseres geben? Nur Mutter zu werden, das war der Zarentochter Marja nicht gelungen . . . Kastschej machte sich in kalte Meere auf, geriet in einen schrecklichen Sturm, und sein Schiff und er verschwanden spurlos. Sie wartete lange auf ihn. Sie dachte, er kommt zurück, er war ja unsterblich. Aber offenbar war sein Licht erloschen, und Kastschej lebte nicht mehr.«
Die Gräfin seufzte nur schwer, während Mitja schnell kombinierte: Sie war seit fünf Jahren verwitwet, also kamen zwei Kriege in Frage, der mit den Türken und der mit den Schweden; da sie von »kalten Meeren« gesprochen hatte, musste Admiral Chawronski gegen die Flotte von König Gustav III. gekämpft haben und dabei umgekommen sein. So viel war klar.
»Marja grämte sich fürchterlich. Dachte: Ich Unglückliche, bin ich ein Weib oder nicht, bin ich eine Jungfrau oder nicht?; ich bin ganz allein auf der Welt; es gibt niemand, an den ich mich anlehnen kann. Aber als sie älter und klüger wurde, da dachte sie: Warum soll ich mich denn an jemand anlehnen? Gott sei Dank bin ich nicht arm, nicht krank und nicht dumm. Sollen die Männer doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Sie bringen nur Ärger und Tränen. Wenn man sich umsieht, der eine tyrannisiert sein Weib, der andere behandelt sie wie Luft. Und wenn ein Wunder geschieht
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