Der Federmann
am Telefon belästigten.
Da hörte sie plötzlich eine ängstliche weibliche Stimme: »Frau Michels?«
»Ja?«
Wieder vernahm sie nur das Atmen, dann sagte die Stimme kaum hörbar: »Ich bin es, Franka Wiese.«
Jana war verwirrt. Sie war doch nicht mehr in ihrer Praxis, die Arbeitswoche war endlich vorbei. Ließ man sie denn nie in Ruhe?
Unwillkürlich schlug sie einen professionellen Ton an. »Was ist los, Frau Wiese, geht es Ihnen nicht gut?«
»Nein. Mir geht es überhaupt nicht gut.«
»Was ist denn passiert?«
Die Frau am anderen Ende schluchzte auf.
»Ich habe solche Angst.«
Jana Michels holte tief Luft. Sie musste sich jetzt unbedingt distanzieren, Patienten durften nicht in ihr Privatleben eindringen, aber natürlich trug sie auch eine gewisse Verantwortung.
»Ist es eine Panikattacke, Frau Wiese?«
»Ja.«
»Wo sind Sie gerade?«
»Bei mir zu Hause.«
Wieder schluchzte sie auf.
In diesem Moment fiel Jana etwas ein, das sie stutzig werden ließ.
»Woher haben Sie eigentlich meine Privatnummer?«
Es entstand eine kurze Pause, als zögerte sie.
»Aus dem Telefonbuch«, sagte Franka Wiese schließlich.
Das war plausibel. Sie hatte längst vorgehabt, ihren privaten Eintrag löschen zu lassen, es aber immer wieder aufgeschoben.
Und dann sagte Franka Wiese: »Ich habe Angst zu sterben. «
»Atmen Sie ganz tief durch. Bilden Sie die Hände zu einem Trichter, und atmen Sie hinein. So wie ich Ihnen das in der Praxis gezeigt habe.«
Doch der Atem flog, es war mehr ein Hecheln.
Und noch einmal sagte sie: »Ich habe Angst zu sterben. «
Jana Michels seufzte.
»Sie sterben aber nicht.«
»Ich habe Angst, schreckliche Angst.«
Sie durfte jetzt nicht ungeduldig werden.
»Was ist vorgefallen, Frau Wiese? Woher kommt plötzlich diese Angst? Was haben Sie –?«
Aber Franka Wiese fiel ihr ins Wort, ihre Stimme überschlug sich: »Kommen Sie her, bitte.«
»Frau Wiese, es ist Samstagabend, ich habe ein Privatleben, das müssen Sie akzeptieren.«
»Bitte. Ich flehe Sie an. Kommen Sie her, sonst wird es nur noch schlimmer.«
»Sie müssen doch –«
»Stellen Sie keine Fragen, bitte. Kommen Sie her.«
»Meinen Sie, Sie können sich nur beruhigen, wenn jemand bei Ihnen ist?«
»Ja.«
»Frau Wiese, das geht wirklich nicht, ich kann nicht –«
»Aber Sie müssen kommen. Bitte.«
Etwas irritierte sie.
Diese Angst schien übermächtig zu sein.
Was war nur passiert?
Für einen Moment malte sie sich aus, ihre Patientin würde am offenen Fenster stehen und könnte sich jeden Augenblick hinausstürzen.
Aber waren das nicht nur ihre eigenen Projektionen?
Sie durfte sich davon nicht beeinflussen lassen.
Wieder flehte die Stimme: »Frau Michels, kommen Sie her, ja? Bitte, bitte, kommen Sie zu mir.«
Jana Michels wollte ihre Patientin mit ein paar letzten Sätzen abwimmeln.
Umso mehr war sie von sich selbst überrascht, als sie plötzlich sagte: »Also schön. Ich schaue kurz bei Ihnen vorbei. Wie ist die Adresse?«
»Mainzer Straße 13. Im ersten Stock.«
»Gut, aber ich komme nur für zehn Minuten.«
»Danke«, stammelte Franka Wiese und legte auf.
Jana Michels stand noch eine Weile vor dem Telefon und überlegte.
Warum tue ich das?, fragte sie sich selbst.
Warum fällt es mir so verdammt schwer, nein zu sagen?
Jemand ist in Not, dachte sie, und ich muss helfen.
Dann zog sie ihre Jacke an und verließ die Wohnung.
Im Sitzungsraum waren die Fotos der Toten aufgehängt. Es waren nun mittlerweile fünf Mordopfer, vier Frauen und ein Mann.
Landsberg hatte Verstärkung angefordert. Mehrere Kollegen von der vierten Mordkommission nahmen an der Sitzung teil. Sie waren zuvor von ihm über den Stand der Ermittlungen unterrichtet worden.
Seit zwei Stunden beratschlagten sie nun schon über ihre weitere Vorgehensweise. Stefanie Dachs hatte sich dafür eingesetzt, endlich etwas von den Vogelzeichen an die Presse zu verraten, damit potentielle Opfer gewarnt würden. Schließlich sei es denkbar, dass der Mörder durch das Aussetzen eines Dompfaffs seine Tat ankündige.
Daraufhin diskutierte man ausgiebig über das Thema »Täterwissen«. Je mehr Einzelheiten über die Mordfälle an die Öffentlichkeit gelangten, desto schwieriger wäre es, den eigentlichen Täter von möglichen Trittbrettfahrern zu unterscheiden.
Schließlich war man sich einig, dass der Schutz der Bevölkerung in diesem Falle Vorrang hatte, und eine entsprechende Presseerklärung wurde vorbereitet.
Trojan schaute zur
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