Der Feigling
Türen auf, blätterte das Album durch, vielleicht hatte er die
Bilder schon eingeklebt. Nein. Sie hob noch ein paar Ordner an, Staub rieb an
ihren Fingern. Das Kuvert war nicht da.
Barbara schloß die Türen und stand auf.
Links hatte er Gläser und Wäsche, da war nichts zu hoffen. Er konnte es sonstwo
hingeschoben haben, versteckt, aber sie war einmal da, zum letztenmal, und sie
wollte nicht gehen ohne die Bilder. Sie öffnete die rechte Tür des Schrankes.
Sein Koffergrammophon stand da, alt, abgeschabt, auch voller Staub. Unten lag
altes Packpapier, gelbe, große Umschläge, zerfledderte Manuskripte türmten sich
darüber. Barbara suchte alles durch, vergebens.
Im obersten Fach lag eine Ledermappe,
wichtige Papiere, wie es schien, Verlagsverträge und anderes. Daneben stand,
längs an die Seitenwand geschoben, ein Kasten, mit gelbem Kunstleder überzogen
und mit einem Nickelmonogramm. J. H. Abgeschabt und geschmacklos. Sie kannte
das Ding, der Feigling hatte allerhand Gerümpel darin, Schmerztabletten und
Hansaplast, sie hatte ihn manchmal darin wühlen sehen. Sie zog den Kasten
heraus und schlug den Deckel zurück, den zwei Druckknöpfe hielten.
Der Umschlag mit den Bildern lag
obendrauf. Ganz oben, ganz offen. Die Bilder waren darin, alle fünf, keins
fehlte. Barbara atmete kurz auf. Sie nahm den Umschlag heraus. Darunter sah sie
ein wirres Durcheinander von Schachteln, Röhren, es lagen zerbrochene
Siegellackstückchen darin, ein Kästchen mit Knöpfen, Bindfaden, Büroklammern,
eine schwarze Augenklappe, die würde er jetzt gebrauchen können.
Sie wollte den Deckel zuklappen, aber
dann sah sie etwas, das ihre Neugier weckte. Es paßte nicht zwischen das
Gerümpel.
Es war ein Seidenband, rot in der
Mitte, mit einem schmaleren weißen und schwarzen Streifen an der Außenkante. Es
ragte zwischen zwei Schachteln heraus. Barbara zog daran, es schien verklemmt.
Sie zog kräftiger. Die Schachteln sprangen in die Höhe. Das Seidenband war
doppelt, lief in einem endlosen Kreis. Unten baumelte ein großes eisernes
Kreuz. Es war schwarz, mit versilberten Rändern, die Jahreszahl 1939 stand
darauf, aber trotzdem blinkten die Ränder noch matt im Licht.
Barbara kannte das Kreuz. Sie hatte es
schon gesehen. Ein Onkel von ihr besaß es, viele Leute besaßen es, viele davon
waren auch schon tot, es gab manche, die sich heute noch etwas darauf
einbildeten, und wenige, die es heute noch trugen. Oft war es beschimpft
worden, die Träger verhöhnt, aber man hatte etwas tun müssen dafür, das wußte
sie.
Wie kam es hierher?
Sie drehte sich um, sah zu dem Vorhang
hin, hinter dem der Feigling röchelnd schlief. Er und dieses Kreuz?
Ausgeschlossen. Ganz unmöglich. Vielleicht gehörte es einem Verwandten,
vielleicht hatte er es irgendwo bekommen, gefunden, von einem Freund als
Erinnerung — es konnte ihm nicht gehören.
Sie legte es auf die flache Hand. Es
wog einiges. Sie blickte darauf hinunter, mit gerunzelter Stirn. Sie hatte es
nicht mehr tun wollen, aber sie konnte nicht anders: Sie ging behutsam zum
Vorhang und schob ihn einen Spalt weit zur Seite. Der Feigling hatte sich
gedreht, er lag jetzt flach auf dem Rücken. Sein Auge war völlig geschlossen,
sicher tat es ihm weh, und er träumte von den Schmerzen. Seine Stirn war
trocken, er schlief ruhiger. Barbara dachte daran, wie er auf dem Fußboden im
Lokal gelegen hatte, die Hände vor dem Gesicht, versteckt im Schutz der
Niederlage.
Er und das Kreuz?
Niemals.
Sie ließ den Vorhang fallen. In der
nächsten Sekunde lag das Kreuz an seinem alten Platz. Sie verbarg auch das Band
unter den Schachteln, stellte den Kasten sorgfältig an seinen Platz.
Dann ging sie zum zweitenmal.
Aber an der Küche blieb sie stehen,
verharrte. Er würde Durst bekommen, wahnsinnigen Durst, sie kannte das von ihm.
Sie holte einen Krug aus dem
Küchenschrank, ließ das Wasser ablaufen. Dann füllte sie ihn randvoll.
Ganz leise brachte sie ihn in die
Schlafkammer und stellte ihn auf den Nachttisch.
In der nächsten Minute hatte sie die
Wohnung verlassen. Der Fahrstuhl sank schnell in die Tiefe.
*
Barbara schlief schlecht in der Nacht.
Bis halb zwei lag sie wach, und dann kamen Träume, Fetzen aus den letzten vier
Wochen. Sie sah ihren Vater, Jens, den Greis, alle sprachen sie freundlich
miteinander über Politik, plötzlich schlug Jens den Greis, aber der lächelte
und hatte das Kreuz um den Hals, unter dem blauen Auge.
Es wurde früh hell, sie lag schon wach.
Lauter
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