Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
schmeckt verflixt lecker.“
Dieselbe Klientin beschreibt, was es ihr bedeutet hat, dass ich sie im Krankenhaus am Tag nach dem Unfall besucht habe. Sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung, war sehr erschreckt und verwirrt, hatte starke Kopf- und Muskelschmerzen und befand sich erkennbar noch im Schock, als ich kam. Sie hatte in der Nacht im Krankenhaus kaum geschlafen, ihr Blutdruck war noch niedrig, sie konnte fast nichts essen, und wir haben ganz sorgsam und reorientierend miteinander gesprochen. Nach einer Weile, als sie immer noch beschrieb, wie durcheinander sie sei, habe ich sie gefragt, ob ich einmal ihre Hand nehmen sollte. Sie hat das sehr erfreut bejaht („Ich hätte mich nie getraut, Sie darum zu bitten“). Dann habe ich eine Weile ihre Hand in meine beiden Hände genommen und weiter mit ihr gesprochen. Mehrere Innenanteile kamen daraufhin hervor und wechselten sich ab in dem Bedürfnis, mir die Chronologie des Unfalls zu erzählen. Ich wollte sie gern nur beruhigen, aber sie bestanden darauf, „alles erst mal der Reihe nach [zu] erzählen, dann ist es besser“. Und so war es. Ich habe einfach zugehört und sie beruhigt: Ach, so war das, und dann war das und dann das – wie gut, dass es jetzt vorbei ist ... Ein Innenkind erzählte auch, dass die „Großen“ das sehr gut gemacht hätten nach dem Unfall, aber die Kleinen auch, weil sie „hinten geblieben“ waren. Wie gut das war, haben wir noch besprochen, aber dass es auch, wenn man aus dem Krankenhaus (und dem auf die Ärzte, die Pflegekräfte und die Mitpatientin im Zimmer Reagieren-Müssen) heraus sein würde, es eine Zeit geben soll für sie. „Ja, wir müssen weinen, das geht jetzt hier nicht“, sagte die kleine Stimme. Nach einer Weile des Zuhörens und beruhigend Sprechens merkte ich, dass es jetzt gut war und ich gehen konnte. Später sagte mir die Klientin, dass sie nach meinem Weggang zum ersten Mal anderthalb Stunden tief und erholsam geschlafen habe.
In derselben E-Mail wie oben schildert sie die Nachwirkung: „Wir denken und fühlen gerade noch mal an die Situation, wo Sie uns im Krankenhaus besucht haben. Das war sooooo wohltuend. Ihre Hand können wir immer noch spüren und wo wir das gerade schreiben, kommen uns gleich die Tränen. Das ist doch dann nicht verboten, sondern da kann doch vielleicht eine kleine Erinnerungsspur anfangen zu wachsen, oder? Wir hätten jetzt gerne ein kleines Plätzchen in einer Ecke neben Ms Körbchen [Anm. MH: M ist mein Hund] und würden da einfach ein bisschen liegen, ohne dass wir Sie stören würden.“
Was manchen KollegInnen vielleicht als unzulässige Regression erscheint, ist meines Erachtens ein enormer Fortschritt für diese Klientin, die erst seit ein paar Monaten zu mir kommt. Durfte ich sie im Krankenhaus besuchen, wo ich doch ihre ambulante Psychotherapeutin bin? Ich habe dazu das Setting der Therapiesituation verlassen. Die Klientin war auf dem Weg zu mir, als sie in den Unfall geriet; sie hatte mich noch im Krankenwagen angerufen, um mir Bescheid zu sagen, dass sie nicht zu unserem Termin kommen könne. Automatisch sprach sie von sich in der Mehrzahl, und ich habe beruhigend auf sie eingesprochen und ihr geraten, jetzt erst einmal immer nur von sich „in der Einzahl zu sprechen“, denn ich fürchtete, dass man sie vielleicht sonst als „Psychiatrie-Fall“ behandeln würde. Nachdem sie versorgt war, rief sie mich noch einmal an; ich hatte darum gebeten. In diesem Telefonat habe ich sie gefragt, ob es gut wäre, wenn ich sie am folgenden Tag besuche, und sie hat sich erkennbar darauf gefreut. Im Krankenhaus hat sie sich mir in einem hilflosen, gleichzeitig tapferen, aber auch merklich dissoziativen Zustand gezeigt und mir erlaubt, freundlich, beruhigend und reorientierend mit den Alltagspersönlichkeiten und den Innenkindern zu sprechen – ich war und blieb also ihre Psychotherapeutin. Durfte ich ihr anbieten, ihre Hand zu halten? Ich habe das in der Situation eine Weile überlegt und mich dann dafür entschieden, ihr das anzubieten, weil ich den Eindruck hatte: Sie ist noch so im Schock – sie muss physisch spüren, dass ich da bin. Das könnte ihr helfen, sich noch besser in der Gegenwart zu verankern und zu spüren, dass der Unfall vorbei ist. Gleichzeitig war es eine liebevolle und tröstende Geste, die offenbar so hilfreich war, dass die „Kleinen“ mir hinterher erzählten, sie hätten sich einige Stunden danach nicht die Hände gewaschen – und das, obwohl die
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