Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Stunden später der Zustand vorbei“, der sie gequält hatte. Wir frotzelten darüber, dass es doch gut sei, so jemanden zu haben, dem man nur auf die Mailbox sprechen müsse und dann ginge es einem besser. Was war gewesen?
Sie erzählte, dass es um ihre endgültige Berentung und Bewilligung der Grundsicherung gegangen sei. Die Frau auf dem Sozialamt habe sie streng befragt, dann alles eingetippt und sich schließlich zu ihr umgewandt. „Und dann hat sie mich sehr ernst angeguckt und gesagt: ‚Jetzt sind Sie am Ende, jetzt geht es für Sie nicht mehr weiter, das ist jetzt endgültig‘“. Sie sei zwar einerseits entlastet – endlich die Grundsicherung für immer –, andererseits verstört durch die Doppelbotschaft: Das ist endgültig. Aber auch: Sie sei am Ende, also das Allerletzte. Damit sei sie aus dem Sozialamt gekommen und habe sich gesagt, dass sie ein Versager sei oder sich vielleicht doch nur anstelle. Auf meine Frage: Nein, niemand, den sie kenne, habe Verständnis für ihre Verzweiflung gehabt, „den meisten erzähle ich das sowieso nicht. Die gehen alle arbeiten oder haben Kinder oder irgendetwas vorzuweisen. Und ich ...?!“ Ja und sie. Ich erinnerte sie daran, dass ich sie ja inzwischen sehr gut kenne und dass ich genau weiß: Sie stellt sich nicht an. Sie hat alles versucht, um mitzuhalten, hat etliche Prüfungen in ihrem Leben bestanden, war sich für keinen Job je zu schade, hat sich unglaublich angestrengt. – Doch sobald sie an mehreren Tagen über mehrere Stunden hintereinander mit anderen Menschen zusammen sein musste, brach sie zusammen. Dann fielen ihr die Häuser auf den Kopf oder überall hinter den Büschen – wie sie aus den Augenwinkeln sah – starben Tiere.
Mit anderen Worten: Sie hat eine so massive und chronische Stressverarbeitungsstörung, dass sie nur wenig Stress aushält. „Ja, jetzt fällt mir was auf: Ich war in der letzten Zeit nicht nur einmal, sondern dreimal in der Woche bei meiner Sportgruppe, das war einfach zu viel. Jetzt, wo wir darüber reden, kann ich das sehen“, sagte sie. Und meinte: nicht der Sport war das, was sie nicht so häufig aushielt. Sondern die Menschen. Ich bestätigte, dass heute schon sehr vieles zusammenkommen müsse, damit es ihr schlecht geht – früher war das sehr viel schneller der Fall. Und außerdem war durch meinen langen Schreib-Urlaub unser letzter Termin schon über drei Monate her, das war selbst für sie, die sie nur selten kommt, eine zu lange Zeit, das konnte sie andeuten. Sie sei so froh, dass ich mit ihr spräche, „dann bekomme ich das wieder klar“. Wir haben dann besprochen, was ihr jetzt wohl am meisten helfen würde, und sie sagte: „Komisch, aber Rückzug von Menschen und in meinem Garten pusseln und meine Katze streicheln, das ist es.“ Und dann wünschte sie mir noch eine schöne weitere Schreib-Zeit und konnte auflegen.
Das Gespräch hat etwa eine Viertelstunde gedauert. Dass diese Frau es aushält, seit 23 Jahren einmal im Monat ihre Themen zu mir zu tragen und sie mit mir zu sortieren, dass sie dabei über die Jahre ganz allmählich dazu gekommen ist, freundlicher mit sich selbst zu sein, eine Katze halten zu können, nie mehr stationär in die Psychiatrie aufgenommen werden zu müssen, dass sie einige wenige, aber stabile Bekanntschaften hat, mehrmals in der Woche für je drei Stunden arbeiten kann, ihren Schrebergarten seit vielen Jahren pflegt und sich einmal im Jahr eine Woche Wanderurlaub zusammenspart – das alles ist nach dem Inferno ihrer Kindheit und Jugend und bei ihrer Menschenscheu ein richtiges Wunder, über das wir uns beide immer wieder freuen können.
14.2 Entscheidend ist: Beziehung
Die Not dieser Klientin, dass man ihr nicht ansieht, wie schlecht es ihr oft geht, weil sie ja auf zwei Beinen läuft, ganz „normal“ aussieht und sich sogar recht gut ausdrücken kann – diese Not teilt sie mit den meisten meiner KlientInnen, die früh und langjährig familiäre und außerfamiliäre Gewalt erlitten haben. Eine Not, die dazu führt, dass sie sich oft als „Aliens“ fühlen, als eine Art Außerirdischer, die nicht in diese Welt zu gehören scheinen. Was „haben“ sie nur, das man ihnen von außen nicht ansieht? Stellen sie sich vielleicht nur an? Das befürchten sie nicht nur, das hören sie auch oft. Von ihren Eltern, von FreundInnen und PartnerInnen, und innen nagen die Selbstzweifel auch. Und die hämischen inneren Stimmen, die das wiederholen, was die Täter einst sagten: „Bist
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