Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
durchzuhalten, viel auszuhalten, dabeizubleiben und die Kinder so allmählich über das Angebot einer wertschätzenden und achtsamen Beziehung für das Lernen zu gewinnen, das hat mich sehr beeindruckt. Weitere Bücher, die mich viel beschäftigt haben, waren zum Beispiel „Sybil“; „Ich bin viele“ oder „Aufschrei“, allesamt Schicksale und teils ungewöhnliche therapeutische Wege von Menschen mit einer multiplen Persönlichkeit. Therapie-Romane wie „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen“ (für mich kein Beispiel für Schizophrenie, sondern für eine komplexe dissoziative Störung), „Schlechter als morgen, besser als gestern“ von Lisa Alther über eine Depressionsbehandlung oder „Ich und die anderen“ über mehrere multiple Persönlichkeiten und ihre unterschiedlichen Lebenswege, um nur einige zu nennen, haben mich ebenfalls zur Auseinandersetzung über psychotherapeutische Möglichkeiten und Grenzen früh traumatisierter Menschen angeregt. Was ich in Romanen, Sachbüchern und Fernsehfilmen überhaupt nicht leiden kann, ist eine Detailverliebtheit, wenn es um die Schilderung von Grausamkeiten geht. Und es mag kindisch sein, aber ich brauche bei Spielfilmen oder Romanen ein Happy-End – das wahre Leben ist grausam genug.
Wie sich Begegnung entwickeln kann
Ja, vielleicht überlegen Sie auch einmal, welche Lektüre Ihnen besonders viel bedeutet hat. Und ich könnte wetten, die meisten von Ihnen haben doch einen ähnlichen Geschmack wie ich: Sie mögen Geschichten, in denen seelisch erschütterte Menschen achtsam und annehmend begleitet und gefördert werden, bis sie sich selbst auf den Weg in ein möglichst selbstbestimmtes Leben machen können. Technische Hinweise über Therapieverfahren sind sicher auch anregend, aber im Umgang mit lebendigen Menschen sind wir immer darauf angewiesen, aus Beispielen zu lernen, wie andere es gemacht haben. Und nach dem Motto: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem andren zu“ möchten wir solche Geschichten lesen, in denen gequälte Menschen von ihren TherapeutInnen aufrichtig freundlich und vorsichtig liebevoll behandelt werden. Zuallererst das: aufrichtig freundlich und vorsichtig liebevoll. Dann lernen wir auch gerne, welche „Kniffe und Tricks“ diese TherapeutInnen angewandt haben.
Vermutlich werden die KollegInnen unter Ihnen mir auch beipflichten, dass sie bei Live-Demonstrationen von ihren AusbilderInnen mehr gelernt haben als aus deren Büchern. Dass sie beim Zuschauen entweder gedacht haben: „Oh nein, das gefällt mir nicht“ und dann auch die vorgeschlagene Intervention eher kritisch sahen. Oder dass sie gespürt haben: „So möchte ich auch behandelt werden, wenn ich KlientIn / PatientIn bin“, und dass sie sich dann auch für die jeweilige Methode öffneten. Ich wette, dass sie die Haltung der LehrtherapeutInnen mehr interessiert hat als das, was diese im Einzelnen gesagt haben. Zwar möchten wir alle immer wissen, „wie“ es gelingen kann, seelische Heilungsprozesse in Gang zu setzen. Doch das ist oft nur sekundär eine Frage der richtigen Technik, auch wenn gute Psychotherapieausbildungen sehr viele Kenntnisse über Zugangswege und Interventionen beinhalten, die meist durchaus anregend und sinnvoll sind. Primär ist Psychotherapie meiner Überzeugung nach eine Frage von Begegnung und was sich in dieser Begegnung entwickeln kann.
Gerade heute habe ich hier in meinem Schreib-Exil mit einer KlientIn telefoniert, die ich seit 23 Jahren kenne. Sie kommt normalerweise einmal im Monat für 50 Minuten zu mir, häufiger kann und will sie das nicht. Sie meldet sich zwischen den Sitzungen so gut wie nie; und diese 50 Minuten im Monat reichen ihr, um seit ca. 20 Jahren außerhalb der Psychiatrie zu bleiben und ganz, ganz vorsichtig psychotherapeutisch mit mir zu arbeiten. Als sie 1989 im Alter von 28 Jahren zu mir kam, konnte sie nur verängstigt in einer Ecke sitzen, von mir abgewandt, und ertrug nur sehr wenig gemeinsame Interaktion und Gespräch, bevor sie abwehrend den Kopf schüttelte, heftig zu weinen begann, sich noch verängstigter weiter zurück- und in sich zusammenzog oder Wutanfälle bekam oder wieder hinauslaufen musste. Gestern hatte sie auf meine Mailbox gesprochen und mich um Rückruf gebeten, was sie in all den Jahren nur dreimal getan hat. Als ich zurückrief, lachte sie erfreut auf: „Wie schön!“ Und erzählte, nachdem sie ihre Nachricht auf Mailbox hinterlassen habe, „war bereits zwei, drei
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