Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Klientin sehr auf Sauberkeit bedacht ist –, „denn die Hand hat noch eine Weile nach Ihnen gerochen“. Das Riechen und Berühren war vielleicht hilfreicher als viele Worte, die wir gesprochen haben; sie beschrieb es hinterher als „gefühlsmäßig viel erinnerbarer, weil wir das bis heute noch fühlen können, und die Worte, die wir gesprochen haben, an die können wir uns nicht mehr so erinnern“. In jedem Fall aber habe das Mich-Riechen und -Fühlen wesentlich dazu beigetragen, dass die gesamte Persönlichkeit der Klientin danach tief schlafen konnte.
Diese Frau hat ihr Leben lang (sie ist Ende dreißig) versucht, sich allein durchzuschlagen und möglichst niemanden zu brauchen. Dabei hilft sie selbst in ihrem sozialen Beruf vielen Menschen. Ihr wurde stets von ihren Eltern vermittelt, dass Probleme ihre eigene Schuld seien. Über die Sexpartys, bei denen sie als Kind von mehreren Erwachsenen gequält wurde, wurde zu Hause nicht gesprochen („Ist doch lange her“) – sie besitzt noch eines der Videos, die damals gedreht wurden. Bis heute beherrscht der früher noch offensiver sadistische Vater die Familie. Bis heute wird die junge Frau von gemeinen, hämischen, entwertenden und zu Selbstschädigung auffordernden Stimmen gequält. Nichts stehe ihr zu, sie solle sich nicht so anstellen, sie sei böse, schuldig, schmutzig, schlecht ... Die Mutter sprach mit der Tochter eher über ihre eigenen Probleme, und wenn sie um Hilfe gebeten wurde, wagte sie es nicht, sich gegen den Vater und an die Seite des Kindes zu stellen. Auch sie übernahm die Haltung ihres Mannes dem Kind gegenüber: „Stell dich nicht so an, du bist selbst schuld.“ Meine Klientin beschreibt sie als „emotional nicht da – sie konnte das nicht, weil sie das selbst nicht erfahren hat von ihrer Mutter“. Und ich wundere mich bis heute, wie dann die Tochter dieser Mutter und die Enkelin dieser Großmutter – meine Klientin – es schaffen konnte, ihrerseits „emotional da“ zu sein – wenn auch aufgeteilt in viele Gefühlsbereiche und Anteile.
Das habe ich immer wieder wahrgenommen: Dass es suchende, spürende, sehnsuchtsvolle Kinder (und Tiere und Pflanzen!) gibt, die etwas in sich tragen, das sich entfalten möchte auch unter den widrigsten Bedingungen; Kinder etwa, die überall die Spuren finden von Situationen und Menschen, die es ihnen ermöglichen könnten, mehr davon zu leben. Und die Glücklicheren nehmen ein Körnchen Zuwendung hier und da auf und ihre innere Saat – ihre Begabungen, Talente, Fähigkeiten, Eigenschaften – blühen auf.
Dass diese junge Frau jetzt auf einmal beginnt wahrzunehmen, dass auch andere Menschen freundlich zu ihr sind, ist relativ neu. Vor allem, weil sie seit den stationären Traumaexpositionssitzungen in vielen Bereichen der Persönlichkeit mehr weiß und mehr fühlt, sodass sie auch den Mangel, das Nicht-Gehabte, mehr wahrnehmen kann. Bislang war ihre Selbstwahrnehmung geprägt von den inneren Entwertungen, die sie von ihrem Vater, ihrer Mutter und anderen Tätern übernommen hatte – und alternativ dazu vom Nichtsfühlen, aber Funktionieren.
Ein Gefühlszustand, den sie nur allzugut kennt, auch in ihren Alltagspersönlichkeiten, ist Scham. Sie schämt sich immer noch sehr. Dass sie nicht alles ganz allein schafft, dass sie manchmal jemanden braucht, dass sie Selbstverletzungsattacken und schwere dissoziative Zustände hat. Sie bekommt z. B. gelegentlich immer noch dissoziative Krampfanfälle, auch wenn diese Form des totalen Zusammenbruchs glücklicherweise viel seltener geworden ist. Dabei hat eine intermittierend stattgefundene stationäre Traumatherapie geholfen (und meines Erachtens dabei vor allem die verlässliche gute Beziehung zur dortigen Traumatherapeutin – viele KlientInnen würden durch brennende Reifen springen, nur damit ihre TherapeutIn bei ihnen bleibt und sie weiterhin unterstützt ...). Sie schämt sich, dass sie manchmal „wie ein Kind spricht“, dass sie ohne ihre imaginären oder als Kuscheltiere symbolisierten inneren Helfer sich nicht trösten kann. Sie hat Fotos von vier Menschen zu Hause, die sie immer wieder anschaut, hat sie mir erzählt, und auch das ist ihr peinlich: ein Bild von ihrer stationären Therapeutin, ein Bild ihrer Ergotherapeutin und ein Bild ihrer ambulanten Psychotherapeutin, dazu eines von ihrem Lieblingsseelsorger. „Darf ich das?“, fragt sie sich, und mich. Und ich bestärke sie: Doch, das darf sie. Sie wird das nicht zeit ihres Lebens so
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