Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
inhaftiert. Marianne Wick (siehe Interview 6 in diesem Buch) hat ihn über viele Jahre therapeutisch begleitet, bis er seine Zwangsfantasie erst verändern, schließlich ganz aufgeben konnte. Es war mir möglich, mit Herrn L., der in der Schweiz inhaftiert ist, ein Gespräch führen.
Michaela Huber: Sie haben eine Frau getötet, vorher eine andere schwer verletzt, getrieben von einer Zwangsfantasie. Sie sind seit Jahrzehnten deshalb inhaftiert. Ich lese immer wieder, eine solche Zwangsfantasie sei nicht veränderbar. Wie sehen Sie das?
Herr L.: Meine Erfahrung ist eine andere. Ich hatte mich hier im Gefängnis für die Teilnahme an einer intensiven Gruppentherapie, genannt AIP (Ambulantes Intensiv Programm) entschieden, weil ich mich von meinen perversen Zwangsfantasien lösen wollte, um irgendwann ein normales Leben in Freiheit führen zu können. Die Entscheidung für die Therapie, mit allen Konsequenzen und Unbekannten, war der erste Schritt. Der zweite und sicherlich wichtigste Schritt war, mich zu meinen – damals noch vorhandenen – Fantasien zu bekennen und sie zunächst einmal wertfrei anzuerkennen, als ein Teil von mir. Der dritte und langfristig äußerst bedeutende Schritt war (neben der Gruppentherapie) das Aufbauen einer guten Vertrauensbasis und Beziehung zu meiner Einzeltherapeutin. Im Einzelgespräch mit ihr konnte ich unbefangen und völlig frei über meine tiefsten Abgründe reden. Das viele Reden und Ausleuchten, das Hinschauen, die vielen beschämenden Momente, das Aushalten-Müssen, die Tränen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, Rückschläge, Erfahrungen noch und noch – anfangs wusste ich ja gar nicht, was mich da erwartete. Dann das allmählich spielerische und natürliche Umgehen mit den Fantasien, das Ausprobieren und Benutzen von neuen Elementen in der Fantasiearbeit. Sie bewirkten über Jahre hinweg – all meiner anfänglichen Skepsis zum Trotz – eben doch etwas. Die Fantasien, der Reiz daran, begannen irgendwann ganz langsam und unmerklich zu verblassen. Das Bedürfnis nach ihnen wurde immer geringer. Heute interessieren sie mich nicht mehr. Ich kann sie zur Fantasiekontrolle hervorholen und wieder weglegen – sie bedeuten mir nichts mehr.
MH: Vermutlich hat es lange gedauert, bis diese Zwangsfantasie sich verändern konnte. Was hat dabei geholfen?
HL: Ja, es dauert lange – aktuell sind es insgesamt 23 Jahre; zwölf Jahre seit Beginn der Gruppentherapie. Das AIP dauert sechs Jahre mit zunächst zwölf Stunden die Woche. Danach gibt es eine abflachende Therapieintensität und den Übergang in eine milieutherapeutische Umgebung – das seit aktuell drei Jahren.
Was mir geholfen hat? Ich bin einfach immer drangeblieben – allen Widrigkeiten zum Trotz – und habe nie groß an die Zukunft gedacht. Eine große Hilfe war sicher auch die gute Beziehung zu meiner Therapeutin. Sie war für mich eine Art Wanderkollegin auf dem langen Weg zur Selbstfindung. Sie führte mich durch den Dschungel der Verwirrungen und begleitete mich geduldig. Im Gespräch konnte ich loslassen und ich sein – das war enorm wichtig! Das Vertrauen war da und das half mir auch wirklich, über alles reden zu können, ohne mich schämen zu müssen. Wir haben auch viel gelacht – und dann flossen wieder Tränen. Ich konnte auch immer wieder gut abschalten und loslassen. In der Musik und mit Yoga beispielsweise. Ich versuchte immer wieder, mir nicht Gedanken zu machen über Sachen, die ich im Moment nicht verändern konnte.
MH: Viele Menschen haben solche gewaltvollen oder ähnliche Zwangsfantasien. Gibt es etwas, das Sie ihnen als Ermutigung sagen könnten?
HL: Es lohnt sich, Zwangsfantasien behandeln zu lassen – auch wenn es ein langer und mühsamer Weg ist. Es gibt weniger Opfer, und der Gewinn an Lebensqualität und Lebensfreude ist enorm. Ein Leben mit Zwangsfantasien kann so unglaublich einengend und reduzierend sein! Ist es das wert? Was verliere ich, wenn ich die Fantasien aufgebe? Was gewinne ich? Ist es nicht einfach nur schön, sein Leben frei verwirklichen zu können, so wie es die meisten Menschen machen – ohne irgendwelche selbst geschaffenen Begrenzungen? Auch ich kann dazu gehören. Zwangsfantasien muss ich mir nicht gefallen lassen. Ich kann sie zumindest einschränken und schon gewinne ich an Lebensqualität. Ich muss es nur wollen – und das Leben wird es mir danken. Wenn ich es dann irgendwann geschafft habe, ist das ein unglaublicher Gewinn! Eine Befreiung! Und plötzlich bin ich
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