Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Müttern selbst um, wie die Mütter es in ihrer Kindheit erleben mussten, sodass ein Teufelskreis etabliert wird, der sich oft über Generationen wiederholt.
MH: Haben Sie kindliche „Psychopathen“ gesehen, und was halten Sie von der These der frühen Prägung?
KHB: Ich habe bisher in meiner langjährigen Zeit als Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut noch keine kindlichen „Psychopathen“ gesehen. Wenn wir Kinder untersucht haben, die aufgrund ihres Verhaltens als sogenannte Monster beschrieben wurden, konnten wir relativ rasch in den verschiedenen Interaktionen das gewalttätige Verhalten des Kindes verstehen, wenn wir seine frühen Erfahrungen berücksichtigten, und diese waren oft geprägt von Gewalt, schwerwiegender Vernachlässigung und Misshandlung. Das heißt, diese Kinder wurden sehr früh in ihrem Leben durch entsprechende traumatische Erfahrungen geprägt. Dies hatte zur Folge, dass ihre Gehirnregionen, besonders im Frontalhirn in den Bereichen der Affektregulation sowie im Hypothalamus und im limbischen System, das für die Angstregulation zuständig ist, komplett anders vernetzt wurden.
Die frühen Gewalterfahrungen führten natürlich zu massiven frustrierenden Erfahrungen, die ein entsprechend großes Aggressionspotenzial zur Folge hatten. Es ist sehr gut nachgewiesen, dass frühe Vernachlässigung und die Nichtbeachtung von basalen kindlichen Bedürfnissen durch die Pflegepersonen – wie etwa Essen, Trinken, frische Luft, Bewegung, Bindung, Exploration, Vermeidung von negativen Reizen, Selbstwirksamkeit und angemessene sensorische Stimulation – zu massiver aggressiver Verhaltensstörung führen. Das heißt, die sogenannten kindlichen Psychopathen haben nach meiner klinischen Erfahrung alle ihre Geschichte von früher Deprivation und Trauma, die so früh begonnen hat, vielleicht sogar schon intrauterin, dass sie bei den Kindern wie eine frühe genetische Prägung erscheinen, weil die Kinder entsprechend ihrem eigenen Gefühl „schon immer so waren“. Bei genauerer Erhebung der Lebens- und oft der Leidensgeschichte können wir aber sehr gut nachvollziehen, wie die Kinder sich so entwickelt haben, dass sie sich heute als Monsterpsychopathen darstellen. Ich habe viele Jahre jugendliche Straftäter begutachtet. Sobald ich mir länger Zeit nahm und wartete, dass sie von ihren eigenen Kindheitserfahrungen anfingen zu berichten, wurde verständlich, warum sie so unkontrolliert aggressiv geworden waren.
MH: Gibt es hoffnungslose Fälle?
KHB: Ich sehe letztendlich keine hoffnungslosen Fälle, vielmehr können wir bei entsprechender Dosis und Intensität der Bindungs- und der psychotherapeutischen Arbeit, wie wir sie auf unserer Intensivstation für Psychotherapie entwickelt haben, Veränderungen erreichen. Der therapeutische Prozess dauert allerdings viel länger und braucht eine große Intensität, wenn Deprivation und Gewalt so früh auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns, besonders der Affektsteuerung und Stressregulation eingewirkt haben. In unserer intensivpsychotherapeutischen Behandlung bekommen die Kinder mindestens fünf Stunden Einzeltherapie pro Woche angeboten, zusätzliche Einzel- und Gruppenstunden in Kunst-, Musik- und Bewegungstherapie. Während des ganzen Tages – und ebenso nachts – werden sie in einem haltenden, schützenden und regulierenden therapeutischen Milieu von den Kinderkrankenschwestern und ihren spezifischen therapeutischen Bindungspersonen in ihren Affekten reguliert und im Alltag begleitet. Unter diesen Bedingungen sehen wir auch bei den sehr früh und extrem traumatisierten Kindern sehr deutliche positive Veränderungen, sowohl im Verhalten als auch in ihren emotionalen Fähigkeiten und inneren Repräsentationen von Bindung.
MH: Wieso setzen Sie so stark auf die Beziehung als therapeutisches Mittel?
KHB: Aus unserer Erfahrung ist die therapeutische Beziehung die einzige Möglichkeit, neue, dichte, emotionale intensive Erfahrungen dem Kind, also letztlich seinem Gehirn, zu vermitteln und auf diese Weise neue neuronale Netzwerke aufzubauen, die schließlich die destruktiven, affektiv entgrenzten Steuerungsprozesse im Gehirn neu regulieren und strukturieren können. Zunächst erleben wir Veränderungen oft nur für einen Moment in einem Beziehungskontakt oder sehen für kurze Zeit auf der Verhaltensebene eine Besserung; die Kinder beginnen sogar, empathisch gegenüber anderen Kindern zu sein und erstmals positive Beziehungserfahrungen aufzubauen.
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