Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
rückfallgefährdeten Straftäter im Vergleich zu einer Kontrollgruppe eine erheblich geringere Quote einschlägiger Rückfälle auf. Die Rückfallrate konnte im Vergleich zur Kontrollgruppe um mehr als 50 % verringert werden.
MH: Sie fordern, dass das Präventionsprinzip neben dem Schuldprinzip gleichrangig etabliert wird. Was meinen Sie damit?
FU: Das Schuldprinzip ist vergangenheitsorientiert. Demgegenüber ist für den Schutz von (potenziellen) Opfern das Präventionsprinzip entscheidend. Es unterscheidet sich vom Schuldprinzip fundamental. Beim Präventionsprinzip geht es nicht darum, die vergangenheitsorientierte Schuld zu bewerten. Vielmehr ist die entscheidende Frage: Welches Risiko geht von einem bestimmten Täter in Zukunft aus? Es liegt auf der Hand, dass beide Prinzipien zu völlig unterschiedlichen Bewertungen führen können.
MH: Können Sie ein Beispiel nennen?
FU: Ein Täter, der eine andere Person mit dem Tode bedroht, erfüllt den Tatbestand einer Drohung. Dabei handelt es sich um ein leichtes Delikt, das – wenn überhaupt – nur eine sehr geringe Schuldstrafe nach sich zieht. Unter Präventionsgesichtspunkten kann die Drohung aber Ausdruck eines außerordentlichen Risikos für das mögliche Opfer sein. Ist diese nämlich ernst gemeint, dann ist der Täter auch bei geringer Schuld als sehr gefährlich in der Zukunft einzuschätzen. Oder: Warum erfährt der Täter, wenn er vom Opfer angezeigt wird, in aller Regel die Adresse des Opfers? Das ist aus Sicht des Opfers absolut unverständlich und unter Opferschutzaspekten falsch.
MH: Was müsste Ihrer Meinung nach aus Sicht der Gewaltopfer geschehen?
FU: Es greift unter Präventionsgesichtspunkten zu kurz, wenn der Umgang mit Straftätern nur eine Sache zwischen Staat und Täter ist, bei der die Schuldfrage den einzigen Maßstab darstellt. Mit den (potenziellen) Opfern sitzt eine dritte Partei am Tisch. Schuldprinzip und Rechtsstaatlichkeit sind für ein zivilisiertes Rechtssystem elementar. Um die gleichermaßen vorhandenen legitimen Rechte von (potenziellen) Opfern aber angemessen zu berücksichtigen, wäre eine gleichrangige Verankerung des Präventionsprinzips wesentlich. Das fordere ich auch auf internationaler Ebene schon seit Langem (siehe auch http://www.z-o-c.org ).
Prof. Dr. Frank Urbaniok leitet seit 1997 als Chefarzt die größte forensische Institution der Schweiz. Er lehrt an den Universitäten Zürich, Bern und Konstanz und gilt als international führender Experte im Bereich der forensischen Psychiatrie. Mit FOTRES (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System) entwickelte er ein eigenes Risikobeurteilungsinstrument, das in verschiedenen Ländern zum Einsatz kommt.
Nachwort
Wie man in den Wald hineinruft,
so schallt es heraus.
Deutsches Sprichwort
Und? Wissen Sie jetzt, was ein Täterintrojekt ist? Sehen Sie, ich habe es mir auch einfacher vorgestellt, als ich anfing. Da gab es diese wunderbare Definition des Kollegen Sandor Ferenczi, der in einem Vortrag 1932 zum ersten Mal von der „Identifikation mit dem Aggressor“ sprach (Ferenczi 1933) und sich dabei eine Art Fremdkörper vorstellte, der „wie ein malignes Über-Ich Schuldgefühle verursacht und zur Identifikation zwingt“ (Hirsch 2011). Dieser ersten Beschreibung folgten tonnenweise psychoanalytische Literaturen in einer sehr eigenen, wohl nur Eingeweihten verständlichen Sprache, die im Grunde dasselbe aussagten wie Ferenczi: Offenbar muss sich das von den Eltern gequälte Kind – wir würden heute sagen: um Bindung aufrechterhalten zu können – mit dem misshandelnden Erwachsenen identifizieren, und dann verinnerlicht er dessen gewalttätiges Denken, Fühlen und Handeln.
Interessant aber ist, dass wir inzwischen schon sehr viel mehr wissen. Wir haben ja Kenntnis von dissoziativen Prozessen, die wir sogar in neurophysiologischen Zuständen „sehen“, weil wir über moderne bildgebende Verfahren beobachten und messen können. Das bedeutet: Es handelt sich bei den nach innen genommenen Absichten, Empfindungen, Handlungsimpulsen etc. des Täters durch das Opfer nicht um eine Art Verdrängungsleistung, wie es die Psychoanalytiker viele Jahrzehnte lang unterstellten. Sondern offenbar um einen viel primitiveren, bewusstseinsferneren Vorgang: In Situationen, die durch traumatischen Stress massive Dissoziation – also eine Aufteilung der Persönlichkeit – erzwingen, übernimmt ein Anteil der Persönlichkeit es, den Täter in seinem So-Sein
Weitere Kostenlose Bücher