Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Gewalt, Vernachlässigung, seelische Grausamkeit oder Verlust von wichtigen Menschen einfach zerbricht, wie eine Vase, die auf den Boden geworfen wird. So ist es nicht. Sondern erstaunlicherweise geschehen offenbar zwei Dinge: Zum einen wachsen die verschiedenen Zustände, in denen sich ein Kind manchmal befindet, unter so hohem Stress gar nicht zusammen; also können sie vom Bewusstsein auch nicht beobachtet und bewertet und damit auch nicht gesteuert werden.
Beispiel:
Ein Kind erlebt eine nette Szene mit dem Vater, in der es von ihm ein Eis bekommt; dasselbe Kind erlebt, dass der Vater plötzlich brutal wird; dasselbe Kind bekommt wieder etwas Süßes, diesmal einen Lolli. Dann kann es sein, dass das Kind sich an Eis und Lolli in seinem Alltags-Ich erinnern kann; die brutale Szene aber, die es zutiefst entsetzt und erschreckt hat, ist wie ausgestanzt „woanders“ in seinem Gedächtnis gespeichert. Vielleicht weiß das Kind im Alltagsbewusstsein noch, dass es in manchen Situationen Angst vor dem Vater hat. Aber warum? – Keine Ahnung. Irgendwann beginnt es, jüngere Kinder „aus heiterem Himmel“ brutal zu behandeln. Warum? Keine Ahnung. Manche Kinder geben diesem „anderen“ in sich sogar eine andere Identität: „Das war ich nicht! Das ist das Monster da drinnen!“
Zum anderen entwickelt ein früh massiv gestresstes Kind ein ganz anderes Stress-System – ja ein ganz anderes Gehirn als Kinder, die unter sicheren Lebensbedingungen aufwachsen. Der amerikanische Biopsychiater Martin Teicher (in Brisch 2010) hat das sehr gut in ein Modell gefasst, das er „Kaskadenmodell“ nennt: Wiederholte frühe Stresserfahrung verändert die Stressreaktionssysteme von Grund auf. Dabei scheinen besonders einige Gene in ihrer Funktionsweise beschädigt zu werden, denn Stress kann Gene sozusagen „ausschalten“. Bei der Entwicklung des Gehirns kann durch Stress das sogenannte Glukokortikoid-Rezeptor-Gen in seiner Funktion auf „Aus“ gestellt werden. Dann können u.U. nicht die Eiweiße freigesetzt werden, die bestimmte Nervenzellen bilden, mit denen das Kind später denken kann. Oder die Umhüllungen von Nervenzellen können unzureichend sein, was zu einem zu raschen Weiter- oder auch Fehlleiten von Reizen führen kann. Oder die Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen, die sogenannten Synapsen, sind dann unzureichend ausgebildet.
Durch den frühen Bindungsstress kann es jedoch zu einer Frühreife in manchen Regionen des Vorderhirns kommen, in denen es um die Funktionen geht, andere zu versorgen und beruhigen zu können. Manche Kinder entwickeln daraufhin eine enorme Fürsorglichkeit für andere. Sie „parentifizieren“, das bedeutet: Sie verhalten sich fürsorglich für ihre Eltern, die sich „kindisch“ benehmen, und sie übernehmen fürsorgliche Aufgaben für ihre Geschwister. Das geht allerdings auf Kosten der Selbstbeobachtung, der Bewertung von Ereignissen („Wie finde ich das eigentlich, was hier passiert?“) und des Mitgefühls für sich selbst. Diese wichtigen Elemente des Persönlichkeitswachstums werden durch den Stress, sich um die Eltern und Geschwister – und sich selbst – „irgendwie“ äußerlich kümmern zu müssen, innerlich nur unzureichend ausgebildet. Folge: Das Kind „kennt sich nicht“. Es ist ständig irritiert darüber, wie es selbst reagiert, wenn es stark emotional gefärbte Zustände hat: eine riesige uferlose Verzweiflung und ein Weinen, das kein Ende zu nehmen scheint. Wutanfälle, die so schrecklich sind, dass das Kind alles in Stücke reißen, um sich beißen oder schlagen will. – Und wenn es selbst Gewalt ausgesetzt ist, richtet es diese Gewalt gegen sich: schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, reißt sich Haare oder Nagelhaut ab, beißt sich die Fingernägel blutig ... Angstzustände, die so furchtbar sind, dass das Kind nächtelang nicht schläft, tagsüber völlig übermüdet nicht lernen kann und / oder sich nur an die Bindungspersonen klammern, die dann oft von ihm „genervt“ sind. Manche Kinder haben dann viele solche extremen Gefühlsstürme – mit der Folge, dass sie ab der Pubertät in Richtung einer Borderline-Störung bzw. einer chronischen komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung gehen können.
Andere Kinder dissoziieren mehr in Richtung des „Sich-Wegmachens, Aufgebens, Nicht-Fühlens“, also mit Phänomenen der Untererregung. Sie können dann auch ein funktionstüchtiges Alltags-Ich (bzw. wenn auch der Alltag des Kindes ständig durch
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