Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
% der sexuellen Übergriffe an Kindern unter sechs Jahren und nur für 4 % der Übergriffe an erwachsenen Opfern verantwortlich. Jungen wählen eher Mädchen als Opfer, mit einem Schwerpunkt bei den Sechsjährigen und einem zweiten Schwerpunkt bei zehnjährigen Opfern. Nach einer Untersuchung von Miner & Munns (2005) hatten 26,7 % der 78 jugendlichen Sexualstraftäter ausschließlich weibliche Opfer, 24,4 % ausschließlich männliche Opfer und 33,4 % sowohl weibliche als auch männliche Opfer (bei 15 % wurde das Geschlecht der Opfer nicht erfasst). Opfer unter sechs Jahren sind sehr häufig Geschwister oder nahe Verwandte des Täters (Wolff-Dietz 2007, S. 113). Laut Worling (2001) wählen jugendliche Sexualstraftäter ihre Opfer nicht, weil sie eine sexuelle Präferenz für sie haben, sondern vor allem, weil sie verfügbar sind.
Der Forensiker Frank Urbaniok vertritt (s. Interview 11 in diesem Buch) die Auffassung, dass es eine Art „Entscheidung für einen Lebensstil“ gebe und nur eine Minderheit der Gewalt- und Sexualtäter eigene Erfahrungen von Gewalt, Vernachlässigung und Verwahrlosung haben. Zumindest für kindliche und jugendliche Sexualtäter lässt sich dies nicht nachvollziehen. Als ich Karl Heinz Brisch Urbanioks Aussagen vorlegte, wunderte er sich. Zudem konnte er dessen Zahlen nicht bestätigen, im Gegenteil: „Wenn man sich mehr Zeit [Anm. MH: als Gutachter bzw. Psychotherapeut] lässt und wirklich auch die Möglichkeit eröffnet, durch Beziehungsaufbau, dass die Jungen oder Männer über ihre frühen Erfahrungen sprechen können, dann sehen die Zahlen anders aus. Bindungstraumatisierungen im Sinne von körperlicher und auch emotionaler Vernachlässigung, Verwahrlosung und Gewalterfahrung habe ich bei fast 100 % der jugendlichen und jungen erwachsenen Straftäter gefunden“ (persönliche Mitteilung).
Geschwisterinzest
Vermutlich ist Geschwisterinzest mindestens so häufig, wenn nicht häufiger, als Vater-Tochter-Inzest (Wolff-Dietz 2007). In den Studien von Finkelhor (1979 / 1980) gaben 13 % der befragten fast 800 Studenten an, sexuelle Handlungen mit Geschwistern ausgeführt zu haben.
Werner Meyer-Deters schreibt in seinem Vorwort zu Esther Klees Dissertation „Geschwisterinzest“ (2008): „Wenn ältere Geschwister unverhältnismäßig oft der Babysitter deutlich jüngerer Geschwister sein müssen und ihre eigenen Bedürfnisse erheblich zu kurz kommen und Erwachsene – warum auch immer – dann abwesend sind, missbrauchen einige dieser älteren Jungen oder Mädchen ihre jüngeren Geschwister, Halbgeschwister oder nicht leiblichen Geschwister“ (S. 13). Darin klingt bereits an, dass es sich um eine Folge von Bindungsstörungen handeln könnte. Klees eigene empirische Studie ergab dann: „Die Abwesenheit der Eltern stellt ein zentrales Charakteristikum der Geschwisterinzest-Familien dar ... Die Familien charakterisierten sich durch eine äußerst feindselige Familienatmosphäre. Die meisten Untersuchungsteilnehmer ... waren vielfachen traumatischen Kindheitserfahrungen ausgesetzt, insbesondere körperlicher und emotionaler Kindesmisshandlung und Vernachlässigung.“
Klees erhielt in ihren Gesprächen mit den jugendlichen Tätern – allesamt Jungen – zahlreiche Hinweise darauf, dass sie in der Regel mehrere Opfer hatten, oft Geschwister, seltener auch Kinder außerhalb der eigenen (Patchwork-)Familie, und dass die weit überwiegende Mehrzahl der Opfer weiblich war. Die meisten Täter waren zu Beginn ihrer Handlungen zehn Jahre oder jünger, die Opfer meist jünger als neun Jahre. Alle Opfer waren jünger, nur eines gleich alt (Zwilling). Wer mehrere Kinder missbrauchte, neigte dazu, immer jüngere Opfer zu wählen. Während viele Täter – und auch viele Opfer – später die Erfahrungen als „Doktorspiele“ verharmlosen, fand Klees heraus, dass „in der deutlichen Mehrzahl der Fälle ... die Täter ihre Opfer sehr intensiv [missbrauchten] – oftmals zwangen sie ihre Opfer zum Oral-, Anal- und / oder Geschlechtsverkehr. Die Intensität der Handlungen wurde in der Regel sukzessiv gesteigert“ (2008, S. 186). Und falls die Opfer oder Täter später angeben würden, dass es sich um Einzelfälle gehandelt habe – Klees Befunde sind deprimierend: „Der Geschwisterinzest dauerte oft mehrere Jahre an und wurde in diesem Zeitraum mehrfach – in einigen Fällen mehrmals pro Woche – durch die Täter ausgeübt“ (ebd.).
DiGiorgio-Miller (1998) führte eine Studie über die
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