Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
sie von den Jungen Antworten wie: „Weil ich darauf Bock hatte, hatte sonst keinen Grund“ (ein 14-Jähriger, der sexuelle Übergriffe auf Mädchen begangen hat und bald entlassen wird). Oder „Weiß ich nicht. Einfach so“ (ein Zwölfjähriger, der andere Kinder dazu gebracht hat, ihn zu befriedigen, und sie bedroht hat). Zum letztgenannten Jungen kommentiert die Therapeutin: „Es ist die Form der Zuwendung, die A. gekannt hat. Er wurde schon als Säugling und Kleinkind immer wieder vergewaltigt. Seine Mutter sitzt deswegen im Gefängnis; sein Vater lebt mittlerweile nicht mehr.“ Degoutries Kollege Thomas Röhl ergänzt: „Wenn einer Gewalt ausgeübt hat, weiß er, wie’s geht. Er kann es machen, hat erlebt, dass sexuelle Gewalt für einen Moment Druck abbaut. Er kann nicht sagen: ,Das werde ich nie wieder machen.‘ Wir können nur etwas dafür tun, dass das Rückfallrisiko geringer wird. Ein Junge kriegt es jetzt hier hin, hier mal seine richtig böse Seite zu zeigen, das ist doch mal was.“ Die Therapeuten sind durchaus realistisch und wissen: Die Kinder und Jugendlichen, die sexuell übergriffig waren, müssen lernen, ihre eigenen Gefühle kennenzulernen und die ihrer Opfer zu respektieren, von denen sie genau wissen, dass sie die sexuelle Gewalt nicht wollen. – Bislang hatte die übergriffigen Kinder und Jugendlichen das aber nicht gestört.
Man kann solchen Projekten, von denen es nur sehr wenige gibt – viel, viel zu wenige angesichts der Tatsache, dass die Zahl dokumentierter sexueller Übergriffe durch Kinder und Jugendliche in den letzten zehn Jahren sich mehr als verdoppelt hat –, nur wünschen, dass sie lange arbeiten können. Und dass es sehr viel mehr solcher Projekte geben wird, denn bislang muss jeder kindliche und jugendliche Sexualstraftäter, ebenso wie die erwachsenen, in der Regel sehr lange, oft etliche Jahre lang, auf einen Therapieplatz warten. So lange stellen sie eine ständige Gefahr dar, wieder andere Kinder, Jugendliche und Frauen zum Opfer zu machen.
8. Wie kommt „das Böse“ in die Menschen?
Haben Sie schon einmal Lust gehabt, Gewalt gegen jemanden anzuwenden? Nein, lassen Sie es mich so fragen: Hatten Sie schon mal Lust, jemandem eine zu langen, zu tonnen, zu scheuern; ihn nach Strich und Faden zu verbimsen, zu vertrimmen, zu verkloppen; ihm eine in die Fresse zu hauen, sie mal richtig ranzunehmen, ihn ungespitzt in den Boden zu rammen, und wie auch immer die zahlreichen umgangssprachlichen Begriffe dafür heißen? Sagen Sie jetzt nicht Nein, das glaubt Ihnen eh keiner, Sie selbst sich doch sicherlich auch nicht. Also ja, selbstverständlich hatten Sie schon hin und wieder in Ihrem Leben Lust, Gewalt gegen jemanden anzuwenden. Und – haben Sie es auch getan? Seien Sie ehrlich: Ja, Sie haben sich schon mal geprügelt – jedenfalls wenn Sie ein Junge oder Mann sind (obwohl auch die Mädels inzwischen aufgeholt haben, was das angeht). Und, wie war es? Hat es Spaß gemacht? Lust auf mehr? Oder waren Sie danach bedient und haben sich nach Hause geschlichen (oder wenn es zu Hause war: in ihr Zimmer), sich geschämt und gedemütigt gefühlt und bewusst beschlossen, sich nie wieder derart provozieren zu lassen? Falls Letzteres (auch) zutrifft: Hat es etwas genutzt?
8.1 Gewalt gegen Kinder
Nächste Frage: Waren Sie als Kind solchen Attacken selbst ausgesetzt? Mit durchaus großer Wahrscheinlichkeit waren Sie das. „Körperliche Gewalt in der Erziehung ist bei vielen Kindern anzutreffen: Nach Studien haben 75 % bis 80 % schon mindestens einmal einen ‚Klaps‘ oder eine ‚Ohrfeige‘ bekommen, 20 % bis 30 % haben eine schwerere Form von Misshandlung wie beispielsweise ‚Prügel‘ erlitten. Die vermutlich häufigste Form der Misshandlung ist die Vernachlässigung, also das Vorenthalten von materieller oder emotionaler Zuwendung, die für die Entwicklung oder das Leben des Kindes notwendig sind. Dabei wird bezeichnenderweise Vernachlässigung sowohl von der Gesellschaft als auch von der Wissenschaft meistens vernachlässigt. Ähnlich ist auch die emotionale Misshandlung, die beispielsweise durch herabwürdigendes oder ablehnendes Verhalten geschieht, kaum empirisch untersucht. Jährlich werden bundesweit 15000 bis 20000 Kinder Opfer von sexueller Gewalt“ (Quelle: Wikipedia) [3] .
Wie kommt die Gewalt in die Menschen?, ist unsere Frage, und sie kommt natürlich direkt oder indirekt über die eigene Erfahrung ins Innere. Erfahrungen der Art, Zeuge zu werden, wie
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