Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Mama von Papa verdroschen wird, der kleine Bruder nach Strich und Faden zusammengeprügelt, die ältere Schwester begrabscht und man selbst sich unsichtbar machen möchte, um nicht auch „dran“ zu sein. Solche Erfahrungen sind in sehr vielen Familien – auch in Ersatzfamilien wie etwa Heimen – üblich. In weitaus mehr Partnerschaften und Familien, als wir denken, spielen seelische Grausamkeiten, körperliche Übergriffe und sexualisierte Misshandlungen eine wichtige Rolle im Alltag.
Und Gewalt gegen Kinder ist zwar gesetzlich verboten – wurde und wird aber weiterhin ausgeübt, wie die Historikerin Heidi Witzig feststellt: „Gewalt gegen Kinder galt bis in die 1970er-Jahre hinein – und gilt teilweise bis heute – als legitimes Erziehungsmittel und wurde in allen Schichten kaum tabuisiert. Die schockierenden früheren Praktiken in Erziehungsheimen und Internaten, die gegenwärtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringen, wurzeln in einer jahrhundertelangen Tradition von Legitimationsmustern und grausamen Praktiken, von der Antike über die Aufklärung bis weit ins sogenannte Jahrhundert des Kindes hinein. Sie galten als selbstverständlich, nicht nur in Heimen und Schulen, sondern auch in der Familie. Sexuelle Gewalt gehörte immer dazu; sie wurde allerdings in der Regel tabuisiert, das heißt im Gegensatz zur körperlichen Züchtigung totgeschwiegen“ (2012, S. 19).
Sexualisierte Gewalt und Ausbeutung sind bis heute überall auf der Welt tabuisiert. Andererseits findet eine Sexualisierung aller Lebensbereiche in den Medien statt. „Die Auswirkungen der allgegenwärtigen Gewaltspiele und -filme in Internet und der eigenen Inszenierungen auf privaten Handys werden vor allem als öffentliche Phänomene wahrgenommen, skandalisiert und diskutiert. Welche Konsequenzen diese Entwicklung für das familiale Beziehungsnetz hat, ist heute ein offenes und brennendes Thema“ (ebd.).
8.2 Flucht oder Angriff?
Die Lust an der Gewalt, am Weitergeben dessen, was man selbst kennengelernt hat, plus dem Ausprobieren von mehr und anderem, solche Gedanken und Impulse, jemandem Gewalt anzutun, sind in jedem Menschen vorhanden, zumindest dann, wenn man sich eingeengt, frustriert, stark gestresst oder gar in der Falle, also in einer aussichtslosen Lage, fühlt. Man hat dann meist das Gefühl, sich wehren, sich befreien zu müssen. Neurobiologen sprechen von einem „Verteidigungssystem“, das dann in Aktion tritt. Interessanterweise verstehen sie darunter zweierlei: Flucht und / oder Angriff. Für beides stellt der Organismus viel Adrenalin zur Verfügung, die Muskeln spannen sich an und man kann so über seine maximale Kraft verfügen.
Auch der Fluchtimpuls ist also ein Verteidigungsimpuls. Angreifen statt fliehen wird man dann, wenn unter unaushaltbaren Lebensumständen zwei Bedingungen erfüllt sind: Man kann gar nicht fliehen und man ist in einer Position, in der man sich auch körperlich wehren bzw. angreifen kann. Kann man sich nicht wehren, wird man in unerträglichen Lebensbedingungen erstarren (eine Art „Totstellreflex“) oder sich total unterwerfen. Dann entweichen die Kräfte aus der Muskulatur, sie erschlafft, und man hat das Gefühl, dass man seltsam ruhig wird oder einem die Sinne schwinden. Das alles liegt in unserer Biologie: flüchten und kämpfen als Übererregung, sich totstellen oder unterwerfen als Untererregung.
Betrachten wir hier weiter die Möglichkeit zu kämpfen, dann wird diese wiederum durch einige Faktoren bestimmt:
Ob man noch klein ist oder schon mindestens ein Teenager: Als Kind hat man nur gegenüber Schwächeren eine Chance. Wehrt man sich gegen größere und stärkere Menschen, z. B. Erwachsene, dann hat man kaum Chancen und gefährdet sich vielleicht sogar noch mehr. Kinder werden also eher erstarren und / oder den Zustand der totalen Unterwerfung kennenlernen.
Ob man es mit einer „primären Bindungsperson“ zu tun hat oder nicht: Wenn man sich gegen die eigene Mutter oder den eigenen Vater körperlich durchsetzen will, muss man schon sehr verzweifelt und außerdem mindestens in der Pubertät sein. Denn vorher unterliegt man dem „Bindungssystem“, das bedeutet: Man muss sich anpassen, und sei es, indem man die Zähne zusammenbeißt und sich ganz hart und starr macht – oder / und sich total unterwirft, weich und angepasst „gut Wetter macht“ und alles dafür tut, dass man nicht (wieder) verlassen oder schlimm bestraft wird. Man ist dann nicht nur innerlich, sondern auch
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