Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Kind denken würde: „Wenn ich mich selber quäle und fertigmache, müssen die ,Bösen‘ das weniger stark und weniger fest tun.“ Oder: „Wenn ich genau mache, was sie sagen, mich selber quäle und immer wieder zu ihnen zurückgehe, werden sie mich vielleicht in Ruhe lassen.“ Die so entstandenen Täterintrojekte führen ein „Eigenleben“. Oft sind sie so stark geprägt und vom Rest der Persönlichkeit abgetrennt, dass sie in der Therapie erarbeitete Veränderungen als gefährlich erleben und diese sofort zerstören müssen. Sie sind täterorientiert und haben gelernt, dass Lebensgefahr droht, sobald etwas anders wird, als die Täter das erlauben. Alles soll so bleiben, wie von den Peinigern vorgegeben und geregelt; nur so ist Überleben möglich. Deshalb müssen sie, aus ihrem Erleben heraus, alles wieder so herstellen, wie die Täter es wollen.
MH: Warum verletzen sich so viele dann selbst?
JS: Mit selbstverletzendem Verhalten holen sich hoch dissoziative Menschen oft aus dissoziativen Zuständen, in denen sie den Körper nicht mehr spüren können. Der körperliche Schmerz holt sie quasi wieder in den Körper zurück.
MH: Kannst du einen Unterschied feststellen zwischen hoch dissoziativen und anderen traumatisierten Kindern, Jugendlichen bzw. Erwachsenen in der Art der inneren Kämpfe und Täterintrojekt-Wirkungen?
JS: Weniger dissoziativ traumatisierte Menschen auf allen Altersstufen können von Täterintrojekten verursachte innere Konflikte und Symptome besser realisieren und verändern. In der Therapie können wir relativ direkt nachforschen, wer und was Ursprung der negativ geprägten Persönlichkeitsanteile ist. Man könnte sagen, die Täterintrojekte sind als Handlungsabläufe oder Gefühlszustände bewusstseinsnäher und werden eher als zum Ich gehörend erlebt.
Hoch dissoziative Menschen empfinden Wirkungen und Inhalte von Täterintrojekten als ich-fremd, also als nicht zum Ich gehörend. In der Therapie sind sie oft nur sehr schwer zugänglich. Die Informationen über die Entstehung der Täterintrojekte müssen sorgfältig erkannt und in kleinen Schritten ins Bewusstsein transferiert werden.
MH: Kannst du Beispiele dafür erzählen – vielleicht sogar aus unterschiedlichen Altersstufen?
JS: Ein Kind, dessen Persönlichkeitsanteile nicht so tief gespalten sind, sagt vielleicht nach einem heftigen Angriff auf ein anderes Kind: „Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe.“ Ist das Kind hoch dissoziativ (und ehrlich), wird es sagen: „Das habe ich nicht gemacht. Das war nicht ich.“ Aus seiner Perspektive sagt das Kind die Wahrheit, denn der Anteil, der sich destruktiv verhalten hat, ist seinem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich.
Ein anderes Beispiel: Eine hoch dissoziative Jugendliche verlässt nachts durch ihr Schlafzimmerfenster das Haus und findet sich am frühen Morgen verschmutzt und mit Schmerzen an einer Bushaltestelle wieder. Diese junge Frau hat kein Bewusstsein darüber, was in den letzten Stunden geschehen ist. Ein täterloyaler Anteil hat in der Zeit zwischen dem Verlassen des Hauses und dem Moment, in dem die Jugendliche an der Bushaltestelle wieder „zu sich kommt“, übernommen. Das Täterintrojekt ist ganz von der Alltagspersönlichkeit getrennt und wird von ihr als nicht zu ihrer Person gehörig erlebt.
Eine weniger dissoziative ältere Frau mit starken Täterintrojekten leidet darunter, dass sie nach einem beruflichen Erfolg eine Stimme in sich hört, die sagt: „Bilde dir nur nichts ein! Spiel dich nicht so auf! Das war doch gar nichts!“ Die Frau erkennt die Stimme als die ihres Vaters und kann sich erinnern, diese Sätze von diesem während ihrer ganzen Kindheit und Jugend gehört zu haben.
MH: Was hilft, wenn man als TherapeutIn mit Täterintrojekten zu arbeiten beginnt? Viele KollegInnen haben ja Angst, sich damit auseinanderzusetzen.
JS: Es ist besonders wichtig, sich immer bewusst zu sein: Diese Anteile reden und handeln aus einer ganz anderen Perspektive. Sie befinden sich noch im „alten Film“, in der Zeit, als Misshandlungen und Qualen stattfanden. Mit diesem Wissen im Kopf kann ich als TherapeutIn in einem ersten Schritt vorsichtigen Kontakt mit dem täterimitierenden Anteil aufnehmen. Ich weiß, dass allein schon die Kontaktaufnahme zu mir aus dem Erleben dieses Anteiles höchst bedrohlich sein kann. Ich rechne also mit ablehnenden kämpferischen Reaktionen, weil dieser Anteil wahrscheinlich die alte Todesangst spürt. So kann ich aggressives
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