Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
trinken) eine wichtige Funktion in ihrer Persönlichkeit hatte: für Ordnung zu sorgen, zu disziplinieren, zu bestrafen, sich abzugrenzen, das Gefühl von Kontrolle über eine Situation zu bekommen. Es war genau das, was sie gelernt hatte: Ihre Täter hatten sie so behandelt, vor allem ihr Vater. Und sie selbst hatte in ihrer Verzweiflung genau dann ihre schlimmen Verzweiflungsattacken in den Griff bekommen, wenn sie wieder eine Weile hungerte. Allerdings war es inzwischen zu lebensgefährlichen Körpersymptomen gekommen, sodass dieser Bewältigungsmechanismus jetzt für die Gesamtpersönlichkeit weitaus schädlicher war, als dass er nutzte. – Ja, das Wirken des „Er“ war inzwischen lebensgefährlich!
Der innere „Er“ hatte längst ein Eigenleben entwickelt. Wir konnten ihn befragen. Zunächst durfte nur ich das, denn die Alltagspersönlichkeit und erst recht die kleineren traumatisierten Anteile der Persönlichkeit fürchteten oder hassten diesen Anteil. Doch ich durfte fragen und ich bekam Antworten. Ich fragte respektvoll, und erst erntete ich Hohnlachen, doch nach kurzer Zeit wurde mir ernsthaft auf mein weiterhin respektvolles und sorgfältiges Fragen geantwortet. Und zwar jedes Mal. Und das nicht nur bei dieser KlientIn, sondern bei jeder, die sich ernsthaft auf den psychotherapeutischen Prozess einließ. Es schien ein Muster zu geben: Wurden diese Persönlichkeitsanteile von der TherapeutIn ernst genommen, respektvoll befragt und gelegentlich gebeten, ob sie etwas tolerieren konnten (einen kleinen Schritt, einen kleinsten gemeinsamen Nenner ...) und wurde ihnen deutlich, wie wichtig sie waren für das Überleben und die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit – dann wurden Kompromisse, Duldungen und Veränderungen möglich (siehe auch Interview 3 mit dem Persönlichkeitssystem von Frau K.). Und haben die Verhandlungen mit der TherapeutIn einen bestimmten Punkt erreicht, gelingt es auch, innere Verhandlungen zwischen verschiedenen Seiten der Persönlichkeit direkt zu führen. Aus Zerstörern im Innern können dann innere Mahner, Warner und KritikerInnen, vielleicht sogar innere oder nach außen adäquat handelnde Beschützeranteile werden. Aus quälenden Impulsen können mit der Zeit kraftvolle Bewegungen in Form von (angemessenem) Sport, Selbstverteidigung, Sich-Wehren etc. werden. Die Angstfreiheit der Täterintrojekte (nichts ist kontraphobischer, also mehr gegen die Angst wirkend, als in ein Täterintrojekt zu wechseln!) kann für die Persönlichkeit nutzbarer gemacht werden. An anderer Stelle habe ich darüber bereits ausführlicher geschrieben (etwa in Reddemann, Hofmann & Gast 2011; Huber 2009) und werde es auch in diesem Buch immer wieder tun.
10.6 Wandel durch Annäherung
Es geht meines Erachtens nicht darum, in einer Psychotherapie gewaltvolle Metaphern zu benutzen oder Vorschläge zu machen, die auf eine Vernichtung von Teilbereichen einer traumatisierten Persönlichkeit hinauslaufen. Es geht auch nicht darum, ausschließlich äußere Anpassungsleistungen zu erzwingen („Das darf ich nicht mehr sagen, nicht mehr tun, sonst werde ich bestraft oder von meiner TherapeutIn verlassen.“) Meiner Meinung nach sollte sich jede Psychotherapie mit Traumaüberlebenden gewaltvoller Bilder oder Suggestionen enthalten und so wenige Sanktionen androhen und anwenden wie möglich. Regeln und „Gesetze“ in der Therapie dienen dem gemeinsamen Freiraum zum Arbeiten, nicht primär der Bestrafung und der Sanktionierung. Nichts in einer Psychotherapie ist in Stein gemeißelt. Ausnahmen von vereinbarten Regeln muss es stets geben, weil (insbesondere früh) traumatisierte Menschen, die so viele Grenzverletzungen erlebt haben, auf diese Weise überhaupt nur lernen: „Ich bin gerade an eine Grenze gestoßen, ich habe sie überschritten, die Alarmglocke ist ertönt – und jetzt sitzen wir hier, schauen uns an, ein wenig blass um die Nase beide, und versuchen herauszufinden, was denn jetzt das Angemessene, das Richtige ist, damit es weitergehen kann.“
Gewalt gab es im Leben der Betroffenen mehr als genug. Und es ist überhaupt nicht nötig, den Täterintrojekten und anderen Selbst-Anteilen gewaltvoll zu begegnen. Respektvoll, ja. Ihnen die Regeln der Verhandlungen vermittelnd und die Grenzen der Möglichkeiten aufzeigend, ja. Wichtig ist diese Grundregel, und sie gilt beiden Seiten: keine Gewalt in der Psychotherapie, weder nach außen noch nach innen (das Letztere gelingt den KlientInnen meist erst
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