Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
denn auch erhalten; macht das misshandelte Kind später die Misshandlung (familien-)öffentlich, wird es meist erleben, dass es „weggebissen“ und ausgestoßen wird – und sich der Kreis der „Familie“ oder insgesamt des Misshandlungssystems umso enger zu schließen scheint.
Und das Kind? Es wird sich genauso fühlen, wie es behandelt wird. Ausgestoßen, anders, falsch, als Müll. Manchmal wird es sogar nicht nur denken, sondern auch „gestehen“ müssen, dass es alles falsch gemacht hat, dass es eine Strafe verdient hat; es wird lernen, dass es nicht weinen darf, weil dann alles noch schlimmer wird. Es muss vor allem unbedingt lernen, dass ihm die erlittenen Qualen nichts oder kaum etwas ausmachen. Denn sein basaler Instinkt ist in der äußersten Not ebenfalls aufs Überleben ausgerichtet. Also übernimmt und trägt es die Last der Generation vor ihm – und vielleicht vom Rest des (Familien-)Systems ebenfalls, darunter von Geschwistern oder anderen Kindern, die vergleichsweise „unbeschwert“ aufwachsen dürfen.
10.5 Aggressive Anteile und / oder Täterintrojekte?
In Situationen des Überleben-Müssens, das haben uns die Neurowissenschaftler in den letzten Jahrzehnten genauer erklärt, ist der Organismus eines Lebewesens vom normalen Funktionsmodus auf den „Verteidigungsmodus“ umgeschaltet. Statt eines durchgängigen Bewusstseinsstroms werden fragmentierte Wahrnehmungen und Gedächtnisspeicherungen dafür sorgen, dass das Unerträgliche portioniert und stets aufs Neue eine Überlebens-Anpassungsleistung möglich wird.
Was das für traumatisierte Kinder bedeutet, hat die strukturelle Dissoziationstheorie gut beschrieben (siehe das Grundlagenwerk von van der Hart et al. 2009 und das Interview 2 mit Onno van der Hart in diesem Buch): Das Kind befindet sich häufig in Zuständen, in denen es nur um sein Überleben kämpft, indem es körperlich Flucht- oder Kampfesimpulse ausagiert, sich innerlich abschaltet, kollabiert, nach außen aber scheinbar angemessen funktioniert. Wenn das Kind solch unerträglichen äußeren Bedingungen über eine längere Zeit immer wieder ausgesetzt wird, dann wird sein ganzes Stresssystem anders aufgebaut als das anderer Kinder, was zum Beispiel Martin Teicher in seiner „Kaskadentheorie“ (z. B. in Brisch 2011) gut beschrieben hat: Wenn ein Kind früh und über längere Zeit massive Bindungstraumatisierungen erlebt, wird seine Hirnentwicklung nicht genauso aussehen wie die von anderen Kindern. Es wird in manchen Teilen seines Vorderhirns vielleicht eine Frühreife entwickeln, die es ihm ermöglicht, sich äußerlich perfekt auch an die lebensfeindlichsten Bedingungen anzupassen. So wird es vielleicht seine erwachsenen Bindungspersonen schon als kleines Kind trösten, beruhigen und versorgen; während gleichzeitig die Bereiche, die für die Entwicklung von Mitgefühl mit sich selbst, Einfühlung in andere, schlussfolgerndes Denken, theoretisches Bewerten der Handlungen anderer etc. zuständig sind, sich unzureichend entwickeln. Diese Bereiche sind eben nicht überlebenswichtig, ja sie wären sogar hinderlich.
Wenn ein Kind zum Beispiel darüber nachdenken würde, wie es das überhaupt findet, dass es so behandelt wird, würde es entweder so wütend oder so verzweifelt werden, dass es vielleicht sterben könnte oder Amok liefe. Doch ein „Junges“ unserer Spezies kann sich erst frühestens ab der Pubertät offen gegen die primären Bindungsfiguren wenden. Daher gibt es in den meisten Gewaltüberlebenden aggressive selbstverteidigende, pubertär wirkende Zustände bzw. Anteile. Dann schreien sie und fluchen, springen auf und schimpfen wüst, stoßen weg und funkeln ihr Gegenüber an: „Wenn du das noch EINMAL machst, dann ...“ Sodass das Gegenüber zurückweicht vor diesem mörderischen Hass.
Selbstverteidigende aggressive Anteile sind oft negativ gegenüber einer Therapie eingestellt: Bloß niemandem trauen! Was soll das Geschwätz? Wichtig für Psychotherapeuten: Selbstverteidigende Anteile sind zwar oft „anti“ eingestellt zu vielem, was die Alltagspersönlichkeit will, und sie können Gefühle nicht leiden; oft versuchen sie auch, innere traumatisierte Zustände oder Selbst-Anteile zum Schweigen zu bringen. Doch das sind keine Täterintrojekte, sondern Selbstverteidigungsimpulse, die der KlientIn, beginnend mit dem Einsetzen der Pubertät, häufig beim Überleben geholfen haben. Vor dem Alter von 13 oder 14 Jahren kann ein Kind sich gegen primäre
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