Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Bindungspersonen kaum wehren. Das wird durch das Bindungssystem verhindert, das jedes Kind dazu zwingt, sich an die Bindungsperson anzupassen, koste es, was es wolle. Jede sozial lebende Spezies, auch der Mensch, verfügt über dieses biologische Primat, sich „als Junges“ vorrangig an die Bindungspersonen anzupassen. Das Kind muss sich also binden; und wenn es kein sicheres Bindungsangebot bekommt – das würde es, wenn es noch nicht bindungsmäßig schwer gestört ist, sofort annehmen –, muss es sich auch an nahe erwachsene Menschen binden, die „dysfunktional“ sind und ihm das Leben und Aufwachsen erschweren, die es also immer wieder radikal in seiner Not im Stich lassen oder es gar immer wieder zu quälen und zu zerstören versuchen. Eine primäre Bindungsperson wie ein Elternteil muss sich schon sehr lange sehr schlecht benehmen, bis ein Kind beim Heranwachsen sich ganz und gar von ihm abwendet.
Selbst die in der Pubertät entstandenen Selbstverteidigungsanteile, die wir in den Gewaltüberlebenden finden, können sich selten gegen die primären Bindungspersonen durchsetzen, auch wenn diese noch so gewalttätig sind. Eher werden sie ihre Wut an anderem auslassen: am eigenen Körper, in Form von selbstverletzendem Verhalten wie den Kopf gegen die Wand schlagen, sich schneiden oder verbrennen, riskantes und unfallträchtiges Verhalten zeigen, exzessiv Sport treiben, nichts oder zu viel essen bzw. erbrechen etc. Dabei wird „der Körper“ oft als nicht zugehörig betrachtet, als Feind, der traktiert werden kann oder muss, etwa weil er Schmerzen hat oder einfach nicht richtig „funktioniert“.
Und / oder die Wut wird gedanklich aktiv: „Alle Menschen sind Arschlöcher! Vertraue keinem!“ Oder „Ist alles eh scheißegal, also her mit dem Alk(ohol), den Medis (Tabletten), dem Joint (Haschisch / Marihuana), dem Druck (Heroin), der Pfeife (Kokain / Crack), den Pillen (Exstasy)“ etc. Oder her mit dem widerwärtigen anderen (missbräuchliche Beziehungen). Bei Jungs und Männern und auch bei manchen Mädchen und Frauen: „Her mit der Gefahr, dem Spiel mit dem Feuer, dem Klappmesser, den mit dem Handy gedrehten Gewalt- und Mobbingszenen.“ Und dann kann auch ein selbstverteidigender Anteil kippen in ein schon vorhandenes Täterintrojekt („Selbst stark sein, das ist es“) und sogar in aktives Täterverhalten.
Problem: Bindung
Tragisch ist, dass die meisten Kinder, die von ihren primären Bindungspersonen nicht bekommen haben, was sie brauchten, und auch von sonst niemandem, einen Bindungshunger entwickeln, mit dem sie sich zunächst sehr lange an ebendiese so unzureichenden Bindungspersonen wenden. Und solange sie an diese gebunden bleiben, so lange bleiben sie auch innerlich bei dem, was sie übernommen haben: Sie wiederholen das, was sie in den Momenten der höchsten Not aufgenommen haben, innerlich immer wieder und richten es gegen sich selbst ... bis sie vielleicht ein eigenes Kind haben, das ihnen als Blitzableiter dient, auch wenn sie sich in ihrem Alltagsbewusstsein noch so sehr vorgenommen haben, alles „ganz anders“ zu machen.
Die Schwierigkeit in der Psychotherapie mit früh traumatisierten Persönlichkeiten besteht folglich darin, ihnen sichere Bindung anzubieten, obwohl sie meist noch an die Personen in ihrer Herkunftsfamilie bzw. ihrem Täterkreis – innerlich und meist auch noch äußerlich – gebunden sind. Und die Tragik besteht darin, dass jemand, der eine zerstörerische frühe Bindung aufrechterhält, sich mindestens ambivalent bis extrem misstrauisch gegenüber Menschen verhält, die anders sind – auch wenn das Anderssein sehr attraktiv, weil freundlich zugewandt etc. ist. So kommt der seltsame Befund zustande, dass traumatisierte Menschen den HelferInnen gegenüber extrem misstrauisch sind und kleinste „Fehler“ hart sanktionieren, mit Rückzug oder Abbruch drohen etc., während sie gleichzeitig treu gebunden bleiben an Menschen, von denen sie äußerst schlecht behandelt werden. Diese destruktiven Bindungen halten zum einen deswegen, weil es primäre Bindungen sind (Eltern etc.), aber auch, weil eine solche primäre Bindungsperson ihnen schon häufig gezeigt hat, dass ihre Macht über sie über Leben und Tod reicht. „Er hätte mich umbringen können, hat es aber nicht getan“ – so begründete eine Frau mir gegenüber einmal ihre strikte Loyalität zu ihrem Misshandler.
Jetzt stellen Sie sich bitte vor, was es bedeutet, wenn man in der Psychotherapie versucht,
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