Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
die Gefühle sich so auftürmen, kämpfen wir wie automatisch gegen sie, und das kostet so viel Kraft. Dann denken wir: ,Ich kann nicht mehr, jetzt lass ich einfach den Krampfanfall zu, dann ist es vorbei, dann sind die Gefühle weg und es ist wieder Ruhe.‘ Auch wenn der Preis dafür ist, sich wie ein Zombie, wie ein lebender Toter zu fühlen.“
Sie habe sich wie ein Schnellkochtopf vor der Explosion gefühlt, sagte die Alltagsperson in dieser „Viele-Frau“, und es kam ihr dann vor, als habe jemand endlich und lange auf das Dampfventil gedrückt, sodass sich die brodelnde Gefühlssuppe wieder beruhigen konnte. Danach habe sie dann stets ihr volles (Arbeits-)Leben wieder aufnehmen können, ohne zu bemerken, dass in ihrem Innern sich wieder der Gefühls-Stress aufstaute, der den nächsten Krampfanfall auslösen würde. Sie konnte es damals nicht merken, dass sie eine multiple Persönlichkeit ist. Damals wusste sie wohl, dass es innere Stimmen gab, und vermutete auch innere Anteile als „eine Art von Ego-States, also irgendwelche inneren Zustände“, aber sie hatte bei einem ersten Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik PatientInnen mit einer multiplen Persönlichkeit, also einer dissoziativen Identität, kennengelernt, die so in Not und teilweise sehr chaotisch waren. „So wollte ich auf gar keinen Fall sein“ und so ist sie auch nicht.
Das „dumme Kindergeschrei“ und die bösartigen Kommentare
Sie funktionierte und war froh, sich um das innere „dumme Kindergeschrei“ nicht kümmern zu müssen; schon gar nicht wollte sie diese „gemeinen und bösartigen Kommentare“ in ihrem Kopf beachten müssen, die ihr vorwarfen, sie mache alles falsch. Sie sei ohnehin selbst an allem schuld, sie sei eben zutiefst böse und schlecht, und überhaupt solle sie sich nicht so anstellen. Inzwischen hat sie diese inneren gemeinen und bösartigen Kommentare als die Täterintrojekte ihrer Kindheitspeiniger identifiziert: Ihr Vater und sein Freund, die das Kind ausgebeutet und emotional unter Druck gesetzt hatten, viele Jahre lang. Auch die Mutter hat in ihr eine innere wehleidige bis gleichgültige Stimme hinterlassen: „Sei nicht so egoistisch, kümmer’ dich mal um andere“ (die Mutter meinte damit: „um mich“). Die Mutter ist im Übrigen, wie meine Klientin berichtete, selbst traumatisiert worden von ihrem eigenen Vater, wie sie der Tochter gestand. Dieser Opa taucht in mehreren schrecklichen „Erinnerungs-Filmen“ meiner Klientin als Täter auf; sie möchte überhaupt nicht, dass da „etwas dran“ ist ... Gleichzeitig hat sie gelernt, dass an den schlimmen inneren Wiedererlebensszenen, in die sie gelegentlich immer noch hineinrutscht – allen gelernten Skills, allen Tresor-Übungen etc. zum Trotz –, doch mehr „dran“ ist, als sie bis heute für verkraftbar hält.
13.2 Therapieverlauf und Aussichten der Klientin
Wenn man sich nur für wenige Minuten in die Persönlichkeit dieser jungen Frau versetzt, kann man sich nur wundern, was sie aus ihrem Leben gemacht hat: Sie ist Vollzeit berufstätig, wenn auch immer wieder mit Ausfällen, die sie als „chronische körperliche Erkrankung“ tarnt. Sie lebt in einer gemieteten Wohnung. Sie pflegt Hobbys. Sie hat wenige, aber freundliche Sozialkontakte.
Und da sie sich überhaupt nicht „anstellt“, sondern äußerst diszipliniert an ihrer eigenen Veränderung arbeitet, halte ich es jetzt, noch immer in der ersten Phase der ambulanten Psychotherapie, selbstverständlich aus, wenn sie einmal trotz aller Bemühungen noch kurz „wegkippt“. [Es ist – dies schreibe ich einige Monate später – nicht mehr vorgekommen, nur das eine Mal; vermutlich hat das hier geholfen:] Wir sind beide gerade dabei zu lernen, was es braucht, damit wir die „Kleinen“ in ihr hören und anerkennen können und dann den Übergang zum „Großsein“ wieder gut ermöglichen, ohne den „Umweg“ über das massive Flashback bzw. den Krampfanfall. Wir sind beide optimistisch, dass das klappen kann. Aber wenn es eines Tages wieder eine halbe Stunde dauern sollte, weiß ich: Sie stellt sich nicht an, sondern sie gibt sich äußerste Mühe. Und darum werde ich sie weder entwerten noch beschuldigen, sondern Geduld haben, was auch immer geschieht.
Das irritiert auch ihre Täterintrojekte, und ich ahne schon, dass ich als Nächstes mit ihnen zu tun bekomme – wenn sie nicht schon in den derzeitigen Gefühlskrisen der Klientin eine direkte oder indirekte Rolle spielen. Ein-,
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