Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
lassen konnte, und wir vereinbarten, dass ich noch ein bisschen sitzen bleiben konnte, und sie zum Essen ging. Als ich alleine war, kam das Zittern wieder. Und da habe ich gedacht, dass ich es ein bisschen zittern lasse, damit der Druck rausgeht. Und dann kam auf einmal der Punkt, wo die Erschöpfung gesagt hat, es soll einfach nur „weg“ sein, und dann wurde das Zittern stärker und wurde zum Kampf gegen die Gefühle. Es wurde ein Mini-Krampfanfall. Sie [MH] kam dann nach einer Weile wieder und war ganz ruhig und lieb, meinte wir sollten ruhig atmen und mal jemand nach vorne holen, der sich wieder orientieren könne. Das ging dann auch. Ich hatte weiter den Druck, jetzt raus zu müssen, weil wir schon nach halb neun hatten. Sie begleitete uns dann noch zum Auto. Sie meinte nichts dazu, ob wir fahrtauglich seien, sondern sagte ganz selbstverständlich, dass wir gut auf uns aufpassen sollten und ihr eine Mail schreiben sollten, wenn wir zu Hause sind. Das tat gut. Sie machte uns keinen Druck und sorgte sich aber. Im Auto habe ich dann noch 20 Minuten lang ein kleines Puzzle gemacht, das ich mir als Skill eingepackt hatte, danach ging es besser und ich konnte losfahren.
Dann kam dooferweise noch der Stau. Zwei Stunden habe ich für acht Kilometer gebraucht. Ich rief sie aus dem Stau kurz an, damit sie sich keine Sorgen machen müsse, wenn wir nicht so schnell eine Mail schickten. Da war sie auch ganz lieb. Später kamen dann erste diffuse Ängste, dann zunehmend Ausfallerscheinungen. Schmerzen, Krämpfe in den Beinen und um 0.00 Uhr habe ich kaum noch richtig gucken können. Aber der Engelschutz [ihr Wort für Schutzengel] hat uns wohlbehalten nach Hause gebracht.“
Mir ist es wichtig, das so deutlich aufzuschreiben und die Notizen der Klientin hinzuzufügen, damit jede/r sehen kann: Von „sich anstellen“ kann hier überhaupt keine Rede sein. Die Klientin hat enorm gekämpft, sie hat eine anstrengende und ernsthafte therapeutische Arbeit gemacht und hat alles dafür getan, verantwortlich mit sich und mir und als Autofahrerin unterwegs zu sein. Also: Dissoziative Krampfanfälle sind keine „gespielten“ Anfälle. Sondern Stressabreaktionen, die der Körper als ein zu öffnendes „Ventil“ gefunden hat, wenn nichts anderes mehr geht. Ich wünsche mir, dass Menschen mit dissoziativen Krampfanfällen respektvoll behandelt werden. Dass es keine „Hysterie“ ist, zeigt unter anderem die Tatsache, dass bei dieser Klientin trotz meines freundlichen Reagierens bislang kein weiterer Krampfanfall vorgekommen ist.
14. Begegnung
Erste Rosen erwachen,
und ihr Duften ist zag
wie ein leisleises Lachen;
flüchtig mit schwalbenflachen
Flügeln streift es den Tag;
und wohin du langst,
da ist alles noch Angst.
Jeder Schimmer ist scheu,
und kein Klang ist noch zahm,
und die Nacht ist zu neu,
und die Schönheit ist Scham.
Rainer Maria Rilke
Man hatte vor tausend Dingen Angst,
vor Schmerzen ...
vor dem eigenen Herzen,
man hatte Angst vor dem Schlaf,
Angst vor dem Erwachen,
vor dem Alleinsein ...
vor dem Tode – namentlich vor ihm, dem Tode.
Aber all das waren nur Masken und Verkleidungen,
In Wirklichkeit gab es nur eines,
vor dem man Angst hatte:
das Sich-fallen-Lassen,
den Schritt in das Ungewisse hinaus,
den kleinen Schritt hinweg.
Über all die Versicherungen, die es gab.
Und wer sich einmal,
ein einziges Mal hingegeben hatte,
nur einmal das große Vertrauen geübt
und sich dem Schicksal anvertraut hatte,
der war befreit,
Er gehorchte nicht mehr den Erdgesetzen,
er war in den Weltraum gefallen
und schwang im Reigen der Gestirne mit.
Hermann Hesse [8]
Diese beiden Gedichte schickte mir, mit dem Kommentar „mit Tausenden Sternlein vom Himmel, aus dem wir kommen“ eine multiple Klientin, nachdem ich ihr geschrieben hatte: „Ja, ich glaube auch, dass durch ein Fühlen des Schmerzes und durch ihn hindurchzugehen etwas an Versehrtheit sich wandelt und es gut sein kann, viel besser als nichts zu fühlen. Aber das lernt man erst, wenn man es macht, gell? Und vor allem: immer wieder versucht, in Begegnung zu gehen. Es ist mir eine so große Freude, euch dabei zu begleiten.“
14.1 Was hilft in der Therapie?
Ich möchte Sie zu einem vielleicht interessanten Gedankenspiel anregen: Wenn Sie einmal überlegen, welche Lektüre Sie zu Ihrer Psychotherapie (als KollegIn oder als KlientIn) inspiriert hat – welche Texte haben Ihnen wirklich weitergeholfen? Wo haben Sie am meisten verstanden von
Weitere Kostenlose Bücher