Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
(siehe unten), dass sie erst noch zwanzig Minuten eine Konzentrationsübung – ein Puzzle – machen musste, bis sie bereit war loszufahren. Sie wird mich anrufen, im Stau steht sie dann und es ist ja schon spät, sie will mir nur Bescheid sagen, damit ich mir keine Sorgen mache. Ich freue mich und wünsche ihr, dass sie gut nach Hause kommt und dann gut schläft. Morgen wird sie früh aufstehen und wieder mindestens acht bis zehn Stunden in ihrem Betrieb arbeiten.
Was vor dem Krampfanfall geschehen ist
Sie hat mir heute ihre Not geschildert: Ihr Verantwortungsgefühl für ihre Schutzbefohlenen (sie arbeitet in einem sozialen Beruf); die Schikane durch ihre beiden Vorgesetzten – schon so viele KollegInnen haben sich versetzen lassen. Auch sie hat einen Versetzungsantrag vorbereitet, aber dann verliert sie ihr schönes, vertrautes Arbeitszimmer und die freundlichen Gespräche mit den Kolleginnen – die einzigen Sozialkontakte, die sie derzeit hat. Und wie immer haben wir uns am Ende für die Gefühle ihrer inneren traumatisierten Kinder-Anteile Zeit genommen, die in der stationären Traumatherapie mit den vielen Traumabearbeitungssitzungen zu kurz gekommen sind: All der Kummer, der „wie in einem brodelnden Kochtopf“ in ihr tobt und für den wir Ventile schaffen, eins nach dem anderen, und manchmal, so wie heute, scheint es gut zu gehen – um dann ganz plötzlich doch in eine massive Dissoziation und den Krampfanfall zu münden.
Sie hatte mir erzählt, dass sie schon mehrfach mit Krampfanfällen in der Notaufnahme eines Krankenhauses war und dass sie einen Notfallzettel in der Tasche hat, der erklärt, dass sie schwer traumatisiert ist, eine dissoziative Identität hat und man ihr Medikamente nur mit ihrer Zustimmung geben soll; weil sie einige Male Szenen mit Ärzten erlebt habe wie: „Stellen Sie sich nicht so an“ – „Beim nächsten Mal weisen wir Sie in die Psychiatrie ein“. Dass „nebenher“ Kommentare gefallen seien wie: „Da können wir jetzt grad niemand reinlegen, da liegt noch der Psychoanfall.“ Offenbar haben die Ärzte sie unter „Hysterikerin“ abgehakt und ihr zu verstehen gegeben, sie könne ja, wenn sie wolle, und sie spiele ihre Krampfanfälle nur.
13.1 Dissoziative Krampfanfälle sind keine „Anstellerei“
Das zeigt, dass diese Kollegen dissoziative Krampfanfälle als „Anstellerei“ betrachteten, was nicht stimmt. Richtig ist dagegen, dass es möglich ist, mit viel Umlernen und rechtzeitigem Umsteuern nach und nach die Krampfanfälle zu verhindern. Das ist ein regelrechtes Training, das übrigens auch Epileptiker mit entsprechenden hirnorganischen Befunden gut tut: Man lernt, die Häufung von Stress zu bemerken, das innere Aufschaukeln, die ersten Anzeichen für einen kommenden Krampf, um durch gezieltes Selbstberuhigen, Ablenken, Hilfeaufsuchen etc. den Krampfanfall zu vermeiden. Das ist ein mühsamer und anstrengender Lernprozess, der nur unter Anleitung erfolgen kann. Meine Klientin hat jetzt in einer Klinik gelernt, mit ihren Krampfanfällen umzugehen, und verstanden, dass sie dann kamen, wenn sie sich zu viel zugemutet hat. Beschrieben hat sie mir das so:
„Als wir die Wiedererinnerungen noch nicht hatten, kamen für uns die vielen Gefühle oft ohne Grund und wir wussten nicht, wie wir mit ihnen umgehen konnten. In der Klinik haben wir ein Skills-Training gemacht und vor allem langsam eingesehen, dass wir Viele sind. Und je mehr wir das angenommen haben, desto besser konnten wir mit den Gefühlen umgehen, desto seltener kamen die Krampfanfälle. Aber desto mehr fiel auch der ‚positive‘ Effekt eines Krampfanfalles weg: Er tötete nämlich alle Gefühle, die sich gerade so furchtbar anfühlten, und nahm den enormen Druck ist weg – und es wurde einfach leer. Der Nachteil war, dass wir einfach keine Kontrolle mehr über den Körper hatten. Und jeder konnte dann mit einem machen, was er wollte. Trotzdem war es früher durchaus erleichternd, als ich noch nicht wusste wohin vor schlimmen Gefühlen, wenn der Krampfanfall gekommen war und die Gefühle weggemacht hatte.“
Ihre stationäre Psychotherapeutin hatte ihr damals sehr geholfen, die Zusammenhänge zu verstehen. „Aber auch ohne therapeutische Anleitung haben wir gemerkt, dass der Anfall sich nähert, wenn sich die Gefühle zu sehr auftürmen. Und dass wir dann teilweise in einen alten Film geraten, in dem es viel Angst gibt, geschlagen zu werden. Daher macht der Körper dann oft Abwehrbewegungen. Wenn
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